Da kehrt Gelassenheit ein

Am Fenster perlen Regentropfen…

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Der Titel dieses Posts – man traut es sich in unserer bewegten Zeit kaum zu sagen. Gelassenheit. Gelassen sein. Etwas lassen. Vielleicht sogar einverstanden sein. Einfach so. Mit dem Wetter. Dem unbequemen Stuhl, auf dem ich gerade sitze und diesen Text tippe. Einfach so.
Wir haben unseren Koffer in der alten Poststation abgestellt. Jeweils knappe zwanzig Kilometer von den nächsten Städtchen entfernt. Relaisstation zum Pferdewechsel mitten in der Landschaft. 1710 steht auf dem Türsturz über dem Eingang. Aus der Wand ragen noch die Halteringe zum festbinden der Pferde. Gegenüber auf dem Hof die kleine Kapelle. Für die Fürbitte der Reisenden. Gegen Strassenräuber oder die Strapazen in der Kutsche.
Die Zeiten ändern sich. Aus der Kapelle ist ein Gästezimmer geworden. Der Postmeister ist einem Koch gewichen. Der will seine Gäste überzeugen von der Qualität der heimischen Produkte. Nur diese verwendet er in seiner Küche. Deshalb wird der Mandelkuchen mit Olivenöl statt Butter gebacken. Der Schokoladenkuchen entbehrt jeglichen Mehls. In dieser Gegend wird kein Getreide angebaut. Alle Marmeladen sind hausgemacht, das Brot selbstgebacken. Die typischen apulischen Weine (Primitivo oder Negroamaro) sind schwarzrot und schwer. Gehaltvoll durch den kalkigen Boden und die Sonne im Überfluss. Modeweine wie seit einigen Jahren die Bordeaux verblassen dagegen. Marketing statt Geschmack und Genuss. Wer kennt schon apulische Weine? Wer verirrt sich überhaupt hierher? In den Mezzogiorno. Kenne ich als Ferienjobber auf dem Bau selbst von Italienern nur als mildes Schimpfwort.
Es ist ruhig, heute ist der Himmel grau. Seit jeher hat hier der Wind das Sagen. Das Wetter ändert sich stetig. Gestern war der Himmel von einer unverschämten Bläue. Da kann der Blick nach oben ehrfürchtig werden. Apulien. Mezzogiorno.
Nach dem Frühstück gehe ich in den Olivenhain, der sich an den Hof anschliesst. Die jüngsten Bäume sind gut dreihundert Jahre alt. Sie stehen weit auseinander. In den modernen Olivenplanzungen stehen die jungen Bäume dicht an dicht. Das steigert den Ertrag. Quantität vor Qualität. Eine Stunde Stämme ansehen. Anfassen. Mit geschlossenen Augen erfühlen. Bestaunen. Bewundern. Die schmaleren Stämme haben fast zwei Meter Umfang, die grösseren vier, fünf und mehr Meter. Behäbig stehen sie auf dem schweren Boden. Massiv und knorrig. Unerschütterbar. Die dynamische Bewegung des Holzes wird in Jahrhunderten gezählt. Die grünen Oliven sind bereits geerntet, die blauen brauchen noch etwas Zeit, einige letzte Sonnentage vielleicht. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommts nicht an. Wer zählt die Tage?

11 Gedanken zu „Da kehrt Gelassenheit ein

  1. Das hört sich schwer nach „la dolce vita“ an. So muss es sein, nicht diese Hektik im zentraleren Europa.
    Die Bäume sehen wirklich zum anfassen aus, da bekommt man direkt Fernweh 😉

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  2. Dolch? Rita? Für wen halten Sie mich, Maitre Hippolyte. Mein Tagewerk besteht aus horsche, gugge, fotografieren, essen und trinken. Ich finde ja kaum Zeit zum Schlafen.
    Wie könnte ich da mit einem Dolch, ach du liebe Rita… 😉

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  3. „Horsche, gugge, fotografieren, essen und trinken…“ – was e' Stress, werter Herr Ärmel 🙂

    Gelassenheit ist ein wundervolles Thema. Dem sollte ein Welttag gewidmet werden. Wobei – eigentlich herrscht der Mangel an Gelassenheit ja nur in den 'reichen' Nationen 🙂

    Aber mich fesselt gerade die Poststation. Wegen der Art des Reisens in früheren Zeiten. Heute rauscht man von Deutschland über die Autobahn in einem Stück nach Süditalien. Halt macht man nur zum Tanken. Die jeweilige McDonalds-Filiale repräsentiert die Gastronomie der jeweils durchquerten Region. Zumindest für die meisten Menschen. Sehr traurig…

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  4. PS: Sehr skurrile Stämme haben diese Olivenbäume. Ich sehe da auf jedem Bild Gnome, kleine Ungeheuer, u.a…

    Bin nicht so der Oliven-Spezialist und weiss nur, dass z.B. alte Weinstöcke irgendwann nicht mehr Qualität bieten und gegen neue augetauscht werden müssen. Bei Olivenbäumen ist das scheinbar anders?

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  5. Ich suche da eigentlich die Mitte. Das Reisen war früher (19. Jahrhundert und zurück) sehr beschwerlich und eher kein Vergnügen. Wir befahren kleine Strassen, langsam, halten an und machen Pausen. Sprechen mit den Leuten und sind neugierig auf das, was sie zu erzählen haben. Da mache ich dann auch keine Fotos mehr, das ist mir alles zu privat/wertvoll…

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  6. Krasse Bäume, ich bin an Olivenhainen immer nur vorbeigefahren, ich hätt vielleicht mal aussteigen sollen. Solche Stämme sind mir allerdings nie aufgefallen, das sah immer recht dürr und vertrocknet aus.

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  7. Werter Her Ärmel, ich muss doch schwer bitten! Ihr Tagewerk hört sich mehr nach puren Stress denn nach einkehrender Gelassenhaeit an. Alleine dieses Mammutprogramm tausende in die Jahre gekommende Baumstämme zu dokumentieren wäre eine Wochenaufgabe gewesen.
    Sie sollten es mit entspannter Gelassenheit versuchen! :p

    p.s.: Diese Rita hört sich irgendwie vielversprechend an, hätten Sie da die Kontaktdaten?

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  8. An jeder Ecke der Erzengel Michael, Gargano (der Sporn) und dann runter zum ionischen Meer. Essen satt und prima roten Wein. Kulturgeschichte pur. Castel del Monte – doch davon werde ich noch berichten. Italien von einer eher unbekannten Seite…

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