zum 20. Juli

Aus gegebentraurigem Anlass wird heute in der Dunkelkammer die Musik erklingen von:
Johnny Winter (23. 2. 1944 – 16. 7. 2014) Sein Gitarrenspiel begleitet mich seit Jahrzehnten, die Liveauftritte bleiben mir unvergessliche Erlebnisse…

Die Todesnachricht von Johnny Winter erreicht mich zwei Tage zu spät. Ausgleichend würdige ich dahingehend aus organisatorischen Gründen den Geburtstag eines anderen meiner Idole zwei Tage vorher.
Am 20. Juli 1934 wurde in Kamień Pomorski, dem vormals pommerschen Cammin die Geburt eines männlichen Kindes angezeigt. Getauft wird dieses Kind auf den Namen Uwe Klaus Dietrich Johnson. Die Vorfahren stammten aus dem schwedischen weshalb der Familienname nicht Tschonnsen ausgesprochen wird. Selbst heute besteht da bei Buchhändlern gelegentlich noch Unsicherheit. Ebenso gilt Johnson nach wie vor als der „Dichter der beiden Deutschland“, eine Zuschreibung gegen die er sich zeitlebens ebenso hartnäckig wie vergeblich gewehrt hat.
Was mich an seinem Werk fasziniert sind einerseits der exakte Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und andererseits die enorm fleissige historische Recherche, die seinen Büchern zugrunde liegen. Durch ihn habe ich gelernt, andere Fragen an die alltäglichen Vorgänge in der Welt zu stellen. Die Funktionsweise der Erinnerung zu überprüfen und die mir mitgeteilten historischen Ereignisse und Strukturen grundsätzlich zu befragen. Insofern hat dieser Autor mit seinen Werken die Welt ein kleines Stück verändert, indem er mich zur Veränderung meiner Denkgewohnheiten und Sichtweisen anregte.
Ich nehme sein Geburtsdatum. Übermorgen, am 20. Juli, würde Uwe Johnsons  seinen 80. Geburtstag begehen. Ein Grund, sich mit seinem Werk bekannt zu machen. Das Publikum hingegen werden die Medien wieder ausreichend versorgen mit ihren Ergüssen zu jenem kollektiven historischen Erinnerungsort eines versuchten Attentats auf den Irren aus Österreich, der sich schreiend aufschwang die Welt zu erobern.
Meine Fragen gehen dahin, was wohl geschehen wäre in der Folge bei geglückter Planausführung. Und ausserdem: Gab es nur diesen einen 20. Juli im 20. Jahrhundert?
Zum Jahrestag des 20. Juli 1944 schreibt „Die Zeit“ am 20. Juli 1946: „Wäre der Aufstand gelungen, man hätte die Männer des 20. Juli als Verräter angesehen und ihnen die Schuld an der Niederlage zugeschoben. Eine fortwuchernde nationalsozialistische Ideologie hätte eine neue Dolchstoß-Legende erfunden. Der Prozeß der Selbsterkenntnis im deutschen Volk wäre unermeßlich schwierig geworden. „Hitler hätte es geschafft“: Von dieser Meinung wären wir kaum losgekommen […] Es ist leicht, gegen den 20. Juli politische Einwände zu erheben. Aber wer war damals bereit, sein Leben, seine Familie und die Achtung der Welt im Kampf gegen Hitler aufzugeben? Die Männer des 20. Juli hätten sicherlich jeden begrüßt, der mitgemacht oder es besser gemacht hätte. Die Aktion des 20. Juli war insofern falsch, als sie zu spät kam, mit unzulänglichen Mitteln durchgeführt wurde und noch keine eindeutige demokratische Tendenz vertrat. Aber die Unzulänglichkeiten müssen von der Realität einer zwölfjährigen nationalsozialistischen Herrschaft aus verstanden werden […] Der 20. Juli war politisch eine Fehlleistung. Er ist aber gleichzeitig ein menschliches Vermächtnis an die deutsche Nation.“ (Dieses und die folgenden Zitate aus: Manfred Overesch, Friedrich Wilhelm Saal: Deutsche Geschichte von Tag zu Tag 1918 – 1949. Düsseldorf, Droste-Verlag (1982/86).
Ein Blick auf andere 20. Julis des Jahrhunderts kann den Blick auf unsere Geschichte erheblich erweitern und so zu einem fundierteren Geschichtsverständnis beitragen.
Am Tag der Geburt des Autors Johnson ereignet sich folgende weitreichende Entscheidung, denn „in einer Verfügung erhebt Hitler die SS wegen ihrer Verdienste – „besonders im Zusammenhang mit den Ereignissen des 30. Juni 1934″ – zu einer selbständigen Organisation im Rahmen der NSDAP. Reichsführer SS Heinrich Himmler wird Hitler direkt unterstellt.“ (am 30. Juni fand der sogenannte Röhm-Putsch statt).
Ebenfalls an diesem Tag in Berlin wird gemeldet: „Durch Freitod scheidet in Berlin die Schauspielerin Senta Söneland aus dem Leben.“ Jene Schauspieleren, die weitgehend vergessen ist für ihr mutiges Engagement in der Frauenbewegung. Sie kämpfte früh für das Frauenwahlrecht und hielt eine denkwürdig mitreissende Rede in Berlin am 19. Januar 1919 anlässlich der Wahl zur Nationalversammlung.
Vergessen auch jener 20. Juli 1938. An diesem Mittwoch ordnet der Reichsinnenminister die Anlegung von Verzeichnissen der jüdischen Gewerbebetriebe an. Auf den Tag ein Jahr später bekommen es einige Nachbarn bereits mit: „Aus Hamburg meldet der französische Konsul nach Paris, starke deutsche Truppenverbände verließen nachts in aller Heimlichkeit Hamburg in Richtung Pommern.“
In den Kriegsbrunnen gefallen war das Kind dann 1941:  In der Nacht zum 20. Juli greifen britische Bomber Hannover an. »Wehrwirtschaftlicher oder militärischer Schaden entstand nirgends«, heißt es dazu im Wehrmachtsbericht. Und 1942: „Die 29. mot. Infanterie-Division bildet bei Zymljanskaja einen Brückenkopf über den Don. Die deutsche Offensive wird nunmehr in zwei Richtungen geführt – nach Süden auf Rostow, nach Osten in Richtung Stalingrad. –  In der Nacht zum 20. Juli werfen britische Flugzeuge Bomben auf Bremen und Oldenburg.
Der verheerende Hamburger Feuersturm setzt einige Tage später ein. Da fällt dem allerhöchsten Wahrsager die Kultur ein als strategisches Gegenmittel: „Hitler billigt die Möglichkeit, im besetzten Ostgebiet einheimische Künstler für die Truppenbetreuung heranzuziehen.“
Während man sich fragt, wo die deutschen Militärs ihren Verstand aufbewahren angesichts der immer bedrohlicheren Lage, scheint den ersten in den U-Booten ein Licht aufzugehen: „20. Juli 1943 (Dienstag) –  Politik – In einer Denkschrift der Seekriegsleitung zur Lage wird festgestellt: »Trotzdem erscheint es unter Abwägung der vorhandenen Kräfte und Möglichkeiten sehr zweifelhaft, ob Deutschland den Krieg mit militärischen Mitteln allein erfolgreich beenden kann.« Hitler kehrt wieder in sein Hauptquartier nach Ostpreußen zurück.“
Und dann kommt der Tag, um den allein sich noch heute das Medienkarussell dreht, der 20. Juli 1944:  „Kurz nach dem Anschlag empfängt Hitler in seinem Hauptquartier Mussolini, der von einer viertägigen Besichtigungsfahrt zu den italienischen Divisionen auf deutschen Truppenübungsplätzen kommt. Ihm gegenüber äußert Hitler: „Nach meiner heutigen Errettung aus der Todesgefahr bin ich mehr denn je davon überzeugt, daß es mir bestimmt ist, nun auch unsere gemeinsame große Sache zu einem glücklichen Abschluß zu bringen!“
Das Ende ist bekannt und schon am 20. Juli 1945 beginnt in Essen das Theaterleben mit einer Aufführung von ›Im Weißen Rößl‹. Andere bestimmen vorläufig die deutschen Interessen, ohne die eigenen zu vergessen, versteht sich. Da der Generalissimus Wissarionowitsch, der sich „der Stählerne“ nennt, noch immer an einer wiedererstehenden neutralen deutschen Nation interessiert ist, reisen „am 20. Juli 1946 Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, die beiden Vorsitzenden der SED, zu Großkundgebungen in die Westzonen. Sie sprechen u.a. in Essen, Köln und Wuppertal zur ›Einheit der deutschen Arbeiterbewegung‹. An diesem Samstag findet im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess keine Verhandlung statt.
Nicht gefunden habe ich heute Morgen, was jener Rhöndorfer Rosenliebhaber für sich und seinen Clan vorbereitet zu jener Zeit. Aus meinem Geschichtsunterricht ist mir jedoch noch erinnerlich, dass er jedenfalls unbedingt gegen den Plan der Alliierten ansprach. Die gedachten nämlich Frankfurt zur Bundeshauptstadt machen. Und das war ihm dann doch zu weit von seinem Rosengarten entfernt. Damit erscheint er dem Schüler Ärmel zum ersten Mal schrullig, zum mindesten. Bonn, wo liegt das denn?
Nicht am 20. Juli sondern schon am 20. Juni 1948 wurde die Währungsreform in den Westzonen gegen die zuvor getroffene gemeinsame Absprache der Alliierten durchgeführt. Drei Wochen später wird so zwangsläufig in der Ostzone die Deutsche Mark eingeführt. Der offizielle Startschuss für die deutsche Teilung ist abgefeuert.
Die seit dem Kriegsende nach Westen ziehenden Menschen wurden der aufstrebenden Bundesrepublik und besonders ihren mit neuenm Wohlstand ausgestatteten Bürgern langsam zum Problem. Der Lastenausgleich, quasi der Vorläufer zum Solidaritätszuschlag, zieht tiefe Gräben. 20. Juli 1949 (Mittwoch):  Die Zahl der in Niedersachsen aufgenommenen Flüchtlinge hat jetzt zum erstenmal die 1,8 Mill. -Grenze um 4000 überschritten. Sie nahm innerhalb eines Jahres um 156000 zu. In Niedersachsen leben gegenwärtig 284000 Personen, die früher in der sowjetischen Zone ansässig waren. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy erklärt gegenüber der Presse, daß er seinen französischen Kollegen aufgefordert habe, die Flüchtlingsumsiedlungen aus der Bizone in die französische Zone zu beschleunigen. Wenn möglich, soll das Umsiedlungsprojekt noch vor den Bundestagswahlen abgeschlossen sein. Vor den Bundestagswahlen, so so.
Auch dass Vertriebene und Flüchtlinge im offiziellen Sprachgebrauch per Verordnung jetzt „Umsiedler“ genannt werden ändert daran nichts. Positiv dagegen diese Nachricht des Tages: Max Horkheimer wird vom hessischen Kultusminister auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität berufen. Da war uns einer willkommen.
Auffällig für die kommenden Jahre sind die Nachrichten jeweils zum 20. Juli mit den Beteuerungen zum Willen zur deutschen Wiedervereinigung. Was ich für den 20. Juli 1952 schmerzlich vermisse in der zitierten Chronik, ist eine Meldung des Rheinischen Merkur aus Köln vom Tage: „Was östlich von der Elbe und Werra liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heisst die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. […] Das Wort Wiedervereinigung sollte endlich verschwinden, es hat schon zuviel [sic!] Unheil angerichtet. „Befreiung“ sei die Parole.“
So äusserte sich der Bonner Bundeskanzler Adenauer. Beim Stimmenfangen zur Bundestagswahl 1953 hatte er es vielleicht vergessen, oder auch aufgrund unvermeidlicher Alterserscheinungen sprach ebenjener Herr Adenauer: „Diesen Schwur lege ich ab für das ganze Deutsche Volk: Wir werden nicht ruhen und nicht rasten, bis das [sic!] ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit.“ (in: DER SPIEGEL, 9.10.1963, S91.).
Wie weit den Aussagen dieses Politikers zu trauen war, lässt sich dem Artikel der Newsweek vom 30. August 1954 entnehmen: „Zu dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Mendès-France sagte Adenauer: „Sie verlieren nichts, wenn Sie die deutsche Einheit opfern. Aber ich. Doch wir sind bereit, sie zu opfern, wenn wir in ein starkes westliches Bündnis eintreten können.“
Warum sind diese Ereignisse uns Nachgeborenen nicht mitteilenswert?
Von da an jedenfalls hatte dieser Herr und alle seine Nachfolger und die gesamte Partei ihr Ansehen irreparabel beschädigt in meinem Bewusstsein. Dies bestätige ich auch weiterhin durch meine Stimmverweigerung.
Der Tod Uwe Johnsons wird von den Behörden auf den 12. März 1984 datiert. Sein Körper hielt seiner Lebensweise nicht länger stand.
Herr Johnson ich gratuliere Ihnen zum Geburtstag, vermisse Sie und danke Ihnen für Ihr literarisches Werk.

30 Gedanken zu „zum 20. Juli

  1. In der Hoffnung, dass Ihr Körper Ihrer nicht gerade üblichen Lebensweise noch viele Jahre standhält, bedanke ich mich für die Aufmerksammachung auf eine interessante, leider tote Frau namens Senta Söneland.
    Aus der Rheinhessensavanne grüßt eine Kommentierende

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    • Oh, für diesen wertvollen Wunsch sende ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank. Von meinem Verhalten soll dem nichts entgegenstehen.
      In die Rheinhessensavanne sende ich der Kommentierenden sonntäglichbrütendheisse Grüsse vom Schwarzen Berg

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  2. Toller, interessanter, für mich neuer, spannender, langer, ergreifender Bericht. Ich bin echt beeindruckt über die Fülle an Fakten und Zusammenhängen. Danke dafür.
    Schweißtriefende Grüße von der Kellertastatur.

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  3. Aus gegebentraurigem Anlass müsste man sich alle 7 Folgen von Raumpatrouille Orion reinziehen, denn Dietmar Schönherr ist leider auch gestorben. Das ist mir momentan zu lang, daher bleibt es bei Johnny Winter auf die Ohren.
    Zwischen 33 und 45 hat der Verstand übrigens nicht nur bei den Militärs ausgesetzt, das war eine landesweite kollektive Hirnlähmung. Kommt in Teilen der Bevölkerung leider heute noch vor.

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    • Die Hirnlähmung wurde nachvollziehbar erzeugt/anerzogen: Preussentum(Preussische Tugenden: Pünktlich sein, Schnauze halten, sich Denkfreiräume zuweisen lassen …har,har… neverending Biedermeier im Gleichschritt) + Wirtschaftserfolge führten in die kollektive Selbstüberschätzung. Der Versailler Vertrag war die dann erfolgte Gängelung zum kollektiven Amoklauf.
      Zu bestaunen ist dasselbe Spiel gegenwärtig in China: Die sind umgerechnet jetzt auf dem Level von Deutschland 1905/06, dauert noch ein Weilchen bis die ihr „Stahlbad“ gegen Japan oder so suchen werden… Wer wird die dann in die Schranken weisen?

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      • Ja, woher das damals kam ist mir klar. Aber die heutigen Fans müssen schon mit Hirnlähmung auf die Welt gekommen sein, anders ist das nicht zu erklären. Wer sich heute auch nur 5 Minuten den GröFaZ oder seinen hinkenden Kompagnon ansieht könnte selbst ohne Kenntnis der Geschichte nur zu einem Urteil kommen: Gummizelle. Jedenfalls solange die grauen Zellen noch ein wenig arbeiten.

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      • Den chinesischen Aspekt deines Kommentars hat Rudolf Steiner in den frühen 1920er Jahren erwähnt: Nicht Europa/USAmerika gegen Russland etc. sondern China gegen USAmerika… Ich will noch lange leben, hoffe jedoch einen solchen Showdown nicht erleben zu müssen…

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    • Nach diesem Wochenende mit etwa 35 teilweise erheblich jüngeren schwarzbergianischen Teilnehmern kommen mir noch ganz andere Gedanken. Einerseits ein Geschenk, mit diesen Menschen ein Wochenende mit tiefen Einblicken zu verbringen, verhehle ich andererseits nicht die Schreckmomente des Gehörten und Gesehenen…

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    • Nachdenken ist immer positiv. Allein die Recherche ist so aufändig nicht, wenn einer sich einer exquisiten Handbibiothek erfreuen kann…
      Sonntäglichbrütendheisse Grüsse vom Schwarzen Berg

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  4. Fragen Sie mich bitte nicht, wieso, aber ich habe mir das genaue Lesen tatsächlich für heute aufgehoben. Beglitten vom Livemitschnitt von Herrn Winter ’83 in Toronto. Und hinterlege, wie schon so oft einen herzlichen Dank für die Horizonterweiterungen. Weil ja immer ein Fitzelchen Wissen hängenbleibt.
    Hoffend, Sie bald ungeunterwässert wiederzulesen, Ihre Frau Knobloch, hitzematt.

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