Nur noch 110 Tage

Nach der Ankunft eines Paketes mit den überarbeiteten Übersetzungen der Nicht-Maigret-Romane Verwendung der abendfreien Zeit mit Recherchen zu Georges Simenon und seinem Werk.
Halt, doch auch Musik zu mitternächtlicher Stunde: Die Filmusik zu Barry Lyndon (1975)…

Die 36. Woche. Zweimal eine ganze Stunde lang in tiefer Ruhe aus dem Fenster geschaut.
Die Mitnehmliste und die Mitbringliste sind aktualisiert.
Der Lift für die Stockwerke hinauf bis unters Dach zur Dunkelkammer ist nach Wochen endlich wieder instandgesetzt. Jetzt werden die vielen Treppen bloss noch spassenhalber benutzt werden (bis zum nächsten Ausfall des Aufzuges).
„Man traf auf unbekannte Leute, die die Treppe hinauf- oder hinuntergingen. Ab und zu ertönte die Türklingel, und ein Polizist öffnete.“
Ein deutscher emporgekommener sehr dicker Kleinbürger wartet. Er wartet. Der deutsche dicke Mann mit weissem Haar und dickrandiger schwarzer Brille erwartet, dass die mohammedanischen Religionsfaschisten mehrere Länder angreifen werden. Woher mag er das wissen, der dicke emporgekommene Herr Steinmeier, hat ihm jemand einen Brief geschrieben?
„Der Mann kaute immer noch, hob eine Flasche gegen das Licht, um zu prüfen, ob noch genügend Wein drin war, und schenkte schließlich ein, ohne eine Miene zu verziehen.“

Den Abfluss der Dusche repariert. Das bringt mich auf einen Gedanken.
„Über sich hörte er ein Geräusch. Fine bewegte sich in ihrem Bett. Aber sie würde nur aufstehen, wenn man sie dazu zwänge.“ Manchmal hätte ich in dieser Woche aus meiner Haut fahren können. Ich bin jedoch ruhig geblieben. In den letzten drei Wochen habe ich ein Kilogramm zugenommen aufgrund einer physiologischen Veränderung. Derzeit wiege ich vier Kilogramm mehr als in meinem zwanzigsten Lebensjahr. Warum erinnere ich mich daran, was macht die Bedeutung dieses Wissens aus für mich.
Ein bekanntes deutsches Sensationsblatt hat in der Titelschlagzeile die Angestellten der Fussballnationalmannschaft eines südamerikanischen Landes mit den iberischen Einwanderern des 19. Jahrhunderts verwechselt, deren Geschäftsgegenstand vornehmlich die Rinderzucht gewesen ist.
„Und glauben Sie auch nicht, dass Sie mit mir machen können, was Sie wollen! Ich hab den Zug genommen und bin nach Hause gefahren, um mich dort auszuruhen.“

Der derzeitig oberste Gaukler der Nation predigt in Danzig der russischen Nation die Leviten.
„Und er sagte das in einem solchen Ton, dass man es für eine Drohung hätte halten können.“
Das Wort Krieg macht die Runde. In privaten Gesprächen. In den Blogs, in Kommentaren. Ist auf dieser gedanklich schiefen Ebene ein Abrutschen überhaupt noch vermeidbar? Das Wort Krieg beginnt Kreise zu ziehen. Es wird in bestimmten Kreisen bewegt, dieses Wort.
„…die Bewohner der Straße, die angesehenen Leute, die, welche etwas hatten, und die andern, die nur so taten als ob; die Kaufleute und Hoteliers, die Leute vom Verkehrsverein ebenso wie die vom Großen Zirkel, die von der Oberstadt wie die von der Unterstadt.“
Einem schwarzen Piqué Hemd das Rückenteil ausgeschnitten.
Es wird benötigt, um die Unterseite der ledernen Auflage eines Stuhls auszubessern. Deren dünner Stoff ist wurmstichig.
„Ich wollte gerade hinuntergehen und das Haus verlassen, als genau im Augenblick, in dem ich zur Treppe kam, der Schuss fiel.“
Der Chef der EZB und Mitglied der gefährlich unmenschlichen Group of Thirty hat den Leitzins des Euro erneut gesenkt und damit die erheblichen Währungsrisiken fast vollständig auf die Bevölkerungen europäischer Länder übertragen. Die haben keine Lobby, können sich folglich nicht wehren dagegen. Das Volk wird die Zechen schon zahlen, so mag er sich die brisante Entscheidung rechtfertigen. An einen Zins glauben Sparbuchinhaber schon lange nicht mehr (gleich der Bibel).
„…geschniegelt und geleckt, mit seinem Kopf, der an eine kranke Ratte erinnerte, und seinem ironischen Lächeln, das er sich für immer und ewig zugelegt hatte und das er für beeindruckend hielt.“
Die Freude wächst. Ich werde freundliche Menschen wieder treffen und andere kennen lernen. Das ist sehr wichtig in dieser unmenschlichen Zeit.
„Im ›Hôtel de Paris‹, im ›Dauphin‹, im ›Allier‹ aßen die Handelsvertreter an der table d’hôte und wurden von Kellnerinnen in schwarzen Kleidern, schwarzen Strümpfen und weißen Schürzen bedient..“
Inzwischen pensionierte Mitarbeiter geheimer Unternehmungen der USofA haben einen offenen Brief an eine ehemalige FDJ-Sekretärin geschrieben. Kann irgendein Mensch dem Glauben schenken?
„Sie behauptet, sie weiß nichts. Das ist eine äußerst unangenehme Sache.“.
Zum ersten Mal einen Roman zu lesen begonnen von Georges Simenon. Nein, keinen Maigret. „Fremd im eigenen Haus“, daraus sind auch alle Zitate des heutigen Posts. Sie folgen der Ausgabe bei Diogenes, 2013.
„Ohne ein bestimmtes Buch zu suchen, stellte er sich vor ein Regal, vergaß vielleicht, dass er da stand, rauchte eine ganze Zigarette, bevor er nach einem Band griff, den er dann zu seinem Schreibtisch trug,.“

Zweimal eine ganze Stunde lang in tiefer Ruhe aus dem Fenster geschaut.
„Er war wütend auf sich, dass er an all das dachte und sich sogar noch dafür interessierte. Fast zwanzig Jahre lang hatte er durchgehalten, und jetzt, wegen einer völlig idiotischen Geschichte…“
Zweimal eine ganze Stunde lang in tiefer Ruhe aus dem Fenster geschaut. Und hinüber auf die Silhouette der Bäume unter dem wechselnden Himmel.
Die 36. Woche und nur noch 110 Tage bis Weihnachten.

Allen Besuchern, Lesern und Guggern wünsche ich ein erfreuliches Wochenende.

(Foto anklicken und gross mitgugge)

38 Gedanken zu „Nur noch 110 Tage

  1. bei all dem Geflüster, ob nun laut oder leise, ist es heilsam in aller Ruhe aus dem Fenster schauen zu können!
    Ein ganz wunderbarer Artikel, Herr Ärmel … und beruhigend schöne Bilder, selbst das schwarze Hemd ohne Rückenteil, vielleicht ja gerade deswegen-

    herzliche Grüsse vom Hochtal wo sich gerade die Sonne durch die Wolken schiebt, gut so
    Ulli

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    • Ich danke Ihnen auch dieses Mal wieder für Ihren freundlichen Kommentar.
      Tja, das Hemd zerschnitten, die Zusage des Taschners (jaja, so jemand gibts noch auf dem Schwarzen Berg), das Sitzkisse gestern abends fertig gehabt zu haben und heute dann die Verschiebung auf Montag… (zum Ausderhaut… // aber da erklärt mir dann die Knobloch wieder was dazu…)
      Seltsamaprilwetterlaunische Grüsse vom Schwarzen Berg hin zum Hochschwarzen Wald

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  2. Diese tiefe Besinnung auf sich selbst, in sich selbst ruhend, die überträgt sich und macht das Kratzen im Halse erträglich. Wir haben ja neuerdings eine Kriegsministerin, lieber Herr Ärmel. Es schleicht sich ein, das Wort, man soll sich wohl daran gewöhnen, das Entsetzen darob wird verdünnisiert. Was setzt man dem entgegen? Von wem wird Entspannung ausgesendet? Hier von Ihnen selbst. Doch im Weltengeschehen?

    Das Ausderhautfahrenwollen ist Teil des Entzuges. Ich war phasenweise unerträglich. Hilft nur, allen Liebmenschen zu signalisieren, daß dies nur eine Phase ist. Der Zeitraum mag bei jedem anders sein. Auch, bis der Stoffwechsel sich komplett umstellt. So, wie alles im Leben seine Zeit braucht.
    Ich grüße Sie herzlich zugeneigt, Ihre Frau Knobloch.

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    • Och nö, die Ungehaltenheiten haben weniger mit Entzugserscheinungen zu tun als mit einer generellen Grundhaltung, die durchaus zum falschen Zeitpunkt ins Cholerische tendieren kann. Was mich wiederum ärgert, was dazu führt, dass… und dann.. naja, Sie können sichs ausmalen///
      Ich grüsse Sie ebenso herzlich zugeneigt, Ihr Herr Ärmel. (mit Pünktchen am Ende)

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  3. Barry Lyndon und sein Simenon … welch aparte Mischung deroweil. Indes, irgendetwas muß man kleinen, dicken Deutschen, Kriegsministerinnen und dergleichen ja entgegensetzen. Schließlich darf die Hoffnung nicht verlorengehen. Wozu letztendlich ebenso die stundandauernden Fernweitblicke dienen.

    Möge die Naturschönheit mit Ihnen sein! 🙂

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  4. Erst letzte Woche habe ich „Die Komplizen“ gelesen, allerdings in einer älteren Fassung, so meine ich. Ja, irgendwie antiquiert (aber nicht negativ), insbesondere in Bezug auf Auto fahren und Telefon besitzen. Damals dachte man noch, ein Telefon zu besitzen wäre ein Luxus, heute ist es ein Luxus, keines zu besitzen. Je nachdem natürlich.
    Als ich 20 war, war ich 18kg leichter. Ich bin nicht übergewichtig heute. Aber ich weiß es noch. Hm.
    […]

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    • Ich habe just einige alte Maigret Vefilmungen gesehen aus den 1970er Jahren. Mit Jean Gabin. Da war ich schon auf der Welt – es muss eine ganz andere Welt gewesen sein…
      (Fotografen unterliegen, so scheints, ganz bemerkenswerten Erinnerungsströmen – und wenns das eigene Gewicht ist, was man sich merkt)
      Endlichwochenendsommersonnige Nachmittagsgrüsse vom Schwarzen Berg

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  5. Von Simenon hab ich irgendwann irgendeinen Krimi gelesen und später in den 80ern das Diogenes TB „Der Präsident“ über deGaulles politischen Abschied.. Lies sich gut lesen. Leseeindruck: Keiner. Bleibt irgendwie nicht hängen. Auch Maigret im TV kam seinerzeit gegen Kojak und Columbo nicht an.

    Mir fiel in deinem Text oben mal wieder auf, wie gern Wessis die FDJ-Sekretärin bemühen. Ossis wissen, dass sie aus Hamburg stammt. Wessis nicht. Oder sie wollen es nicht wahrhaben. Tja, es gibt eben keine gesamtdeutsche Wahrnehmung.

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    • Es würde mich, jetzt da du es erwähnst, schon interessieren, wie das Hängenbleiben funktioniert. Es muss da schon ein starkes individuelles Moment beteiligt sein.
      Maigret mit Rupert Davies hinterliess bei mir mehr Eindruck als der Lutscherlutschende Glatzkopp und bei Columbo wars das 403er Peugeot Cabriolet, das mir ewig erinnerlich bleiben wird..
      Natürlich haben keine gesamtdeutsche Wahrnehmung, wie auch – deswegen müssen wir auch jede Gelegenheit zum gegenseitigen Austausch nutzen. Nur so werden die Bilder rund.

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      • Jau, der starke individuelle Moment wird schuld sein. Frankreich an sich bleibt für mich uninteressant. Da fallen mir tausend Gründe ein, warum ich da nicht hin muss. Vermutlch liegts in erster Linie an den gräußlichen Musikerfahrungen in der Prägezeit der Pubertät: Aus Frankreich kamen eben nur Chansons in einer komplett unverständlichen Sprache und sangen Becaud oder Adamo (jaja Belgien ich weiß; geschenkt!) mal auf deutsch dann wars erst recht Gülle. Das Phänomen Louis de Funes ist eine unerklärliche Ausnahme, die mir als Teenie gefiel, der ein oder andere Mantel-und-Degenfilm auch, aber gnadenlos veraltet ist auch das heute.

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        • Meine Rede, die individuelle Haken im Hirn und an der Seele.
          Als ich anfing nach Frankreich zu fahren kannte ich zwar die von dir genannten Namen und Moskau, roter Platz ABER eben auch Didier Malherbe, Ange oder Magma und die alten verfallenen Schlösser, Pastis, die Provence, die Liebe unterm freien Himmel – – – Hach – – –
          Im Limousin oder in der Gascogne sind nach der zweiten Flasche Wein oder einem Pichet Calvados D´Artagnan und seine drei Muskeltierfreunde Athos, Porthos und Aramis von selbst lebendig geworden in den verwinkelten Altstadtgassen ~~~

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  6. Ja Dumas: DAS ist EIN Pluspunkt für Frankreich; Ange wären einer gewesen, wenn ich sie rechtzeitig gekannt hätte, aber die hab ich erst ende der 90er entdeckt; Magma sind mir zu abgedreht. Zu Dumas fällt mir noch ein, dass es da antiquarisch 2 seeehr gute Fortsetzungen zum Grafen von Monte Christo gibt:
    – der Herr der Welt
    -die Millionenbraut
    von Adolf Mützelburg; die waren sogar einmal Teil der verdienstvollen rot gebundenen Gesamtausgabe der Franck’schenVerlagbuchhandlung.
    Hab neulich den Film „Willkommen bei den Schtis“ gesehen und fand ihn unterhaltsam; außerdem „Monsieur Claude und seine Töchter“ auch ganz lustig, aber nach Frankreich fahren? Nä.

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  7. Aus dem Fenster schauen. Ja, das beruhigt.
    Tu’s nun auch schon selbst seit Stunden, obwohl das Meer ist in die Nacht entschwunden.
    Ich hör es rauschen, kann es riechen.
    Werd zufrieden gleich ins Bettchen kriechen.
    Über mich die Decke, komm zur Ruh‘
    und winke dem Herrn Ärmel zu.

    Gutnächtlichemümmelgrüße und ein gute Nacht, zum schwarzen Berg

    Silvia Meerbothe

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    • So früh schon? (ach so, Sie sind ja auch vor den Piepmätzen schon auf den Beinen)
      Hey, ein tolles Abendstimmungsgedicht – Klasse und mille grazie fürs Zuwinken 😉
      Hoffentlich schlafen Sie derzeit so gut wie ich hier sitze und mir Gedanken für einen
      weiteren guten Beitrag für den Blog mache… Aber jetzt erstmal Musik suchen…
      Fastmitternächtlichfröhliche Grüsse vom Schwarzen Berg

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  8. Pingback: Wasserstandsmeldung | Gemeinsamleben Weblog

    • Uiuiui, ich bin doch nicht schwermütig (wie wirke ich auf die Welt – aufpassen, Herr Ärmel)
      Ich freue mich auch schon 🙂
      Was schert mich, wie weit es bis Weihnachten ist, wenn ich sicher weiss, dass ich in vierundzwanzig Stunden den ersten Äppler geniessend zu mir nehmen werde….

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