So wird ein Paar aus zwei Schuhen

Kaum ist der Nachbar zurück aus dem Urlaub, scheint er nur ein Ziel zu kennen: die Dunkelkammer wohl beschallt und den Nachbarn Ärmel diesbezüglich gut versorgt zu wissen. Und da er Klangpakete über alles liebt und sammelt, lachte er über mein offenmundiges Staunen bei seiner vorgestrigen Präsentation. Alle zweihundert Folgen von: Lutz Goerner – Lyrik für alle

Bloggen kann ansteckend sein. Die ebenso geschätzte wie tanzfreudige Frau Knobloch (mit zwo o) schrieb einen Beitrag über das ihr ans Herz gewachsenes Schuhwerk. Zum Glück weiss die Frau Knobloch (mit zwo o), dass man auf Semmeln nicht tanzen kann. Angeregt zu ihrem Beitrag wurde sie von einer Publikation des genialen Herrn Hund, der zuvor in seinem immer wieder erstaunlichen Blog ein fundamentales Problem seiner geliebten Latschen reflektierend abhandelte.
Das Sprichwort sagt, wer barfuß geht, den drücken die Schuhe nicht. Trotzdem ziehe ich Schuhe allgemein vor. Auch wenn das Anziehen und Binden manchmal Zeit kostet. So erklärt eine Weisheit: Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.
Ich glaube notorisch nicht an Zufälle. Noch vor der Kenntnisnahme der beiden aufschlussreichen Beiträge begrüsste ich an jenem Morgen meine mir liebgewordenen wildledernen Halbstiefel nach ihrem ausgedehnten sich nun dem Ende zuneigenden Sommerschlaf. Der Herbst hat die jahreszeitliche Tür bereits geöffnet und so verlangen die eigenen Füsse nach entsprechender Wohltemperierung in den dunkelkälteren Jahreszeiten.
Es ist hier weder die Zeit noch der Ort eine kleine Kulturgeschichte der Schuhe zu schreiben. Der Titel „Die zertanzten Schuhe“ im Knoblochschen Blogbeitrag verweist auf das allseits bekannte Märchen der Brüder Grimm.
Ich habe für mich die endgültige Entscheidung noch nicht getroffen, was ich unsinnger finde: die von Unwissenheit erfüllte kategorische Ablehnung von Märchen als hervorragendes pädagogisches Mittel in der Begleitung kleiner (und auch grosser) Menschen oder die unsinnige Symboldeuterei, die am Ende zu keinem wirklichen Erkenntnisgewinn beiträgt. Schuhe als vaginales Symbol im Märchen? Das hängt wohl von der Fantasie des jeweiligen Symbolsuchers ab.
Ich persönlich halte es da mehr mit dem Bilderbetrachten. Märchen als grandiose sinnstiftende Museen. Kein Wunder bei einem Lichtbildner. Und einem Lummerländer Ureinwohner fällt dazu selbstredend noch die Bearbeitung der Zertanzten Schuhe durch die Augsburger Puppenkiste ein. Dass vor einigen Jahren in Ammiland eine Plastikbarbie mit zölf tanzenden Prinzessinnen . . aber nun komme ich vom Wege ab.
Wirf deine alten Schuhe nicht weg, ehe du neue hast! (immer diese Weisheiten) – aber zuzeiten steht auch beim Schuhwerk ein Neuerwerb an. Mein wildledernen Halbstiefel also. Ich kann den eigentlichen Grund garnicht mit Bestimmtheit angeben, durch den sie mir so sehr ans Herz gewachsen mögen. Das eigentlich Besondere an ihnen ist nicht ihr Markenzeichen, sondern ihre Unterschiedlichkeit. Ich sah sie in einer Auslage stehen und schon wars um mich geschehen. Schon die Stadt, in der das geschah ist im Abgrund meines Vergessens entschwunden.
Allein, der Erwerb schien am Preis zu scheitern. Dennoch nahm ich sie in Augenschein, aah, im Inneren leuchtete grellrot ein Klebeschildchen, das einen um 50% heruntergesetzten Verkaufspreis anzeigte. Naja, leider noch immer ausserhalb des Ärmelschen Budgets. Der kleine Mann im Ohr begann gleich zu zischeln: probier sie doch wenigstens mal an. Ich tats. Die Füsse glitten in eine perfekte Passform – ABER: es waren zwei verschiedene Schuhgrössen. Ich machte die Verkaufsangestellte darauf aufmerksam. Sie war tüchtig bemüht, verschwand im Lager und kam zurück mit Kartons. Deckel auf, Papier raschelte. Es blieb am Ende dabei: es gab von diesem Modell bloss noch einen Schuh jeder Grösse. Einen etwas grösseren linken und einen etwas kleineren rechten. Die aufgeweckte Verkäuferin empfahl andere Modelle. Zugegeben, die Farbe des ungleichen Paares war für meinen Geschmack wenig einnehmend, dennoch!
Man redete, man bedauerte, man empfahl – man schaute ratlos auf die zwei ungleichen wildledernen Halbstiefel. Und wenn, fragte schlussendlich die dienstfertig herbeigeeilte Geschäftsführerin, und wenn wir Ihnen nun nur einen Schuh verkaufen und Sie zahlen auch nur den einen? Den anderen kann ich Ihnen gerne hinzuschenken? Ein Schuh, zum halben Preis eines ganzen Paares. Eine feine Idee, ebenso verblüffend wie einfach.
Ich war einverstanden, denn nun konnte ich mir das Feinstschuhwerk leisten. Inzwischen laufen wir schon einige Jahre zusammen. Ich achte stets darauf, dass sie in gutem Zustand sind und es mir am Ende nicht ergehen möge wie dem „Schneider im Himmel„. Beim Blick in den Spiegel sehe ich die einige graue Haare. Ich liebe sie wie die kleinen Stellen an meinen Stiefeln, an denen das Wildleder zu glänzen beginnt. Wir altern miteinander.
Dier linke grössere hat vorne ein klitzekleines Dellchen, dort wo die kleineren Fusszehen nicht mehr hinragen. Das ist Anlass für den kleineren rechten Schuh seinen Nebenschuh gelegentlich zu necken. Der linke, grössere nimmts gelassen, lächelt und sagt: “nichts ist perfekt auf der Welt.” So laufen sie nebeneinander her seit Jahren und tragen mich auf meinen Wegen.
Allen Besuchern, Lesern und Guggern wünsche ich einen erspriesslichen Wochengang

59 Gedanken zu „So wird ein Paar aus zwei Schuhen

  1. Märchenhaftes wohin ich in den Blogs schaue.
    Darüber freue ich mich sehr.
    Die Schuhe machen Ihrer Geschichte alle Ehre und ich danke für den Hinweis auf’s Märchen .
    Liebe Grüße, Ihre Arabella

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  2. Und es scheint sich mir fast um Sieben-Meilen-Wildledersriefel zu handeln, da, wie es den Eindruck macht, Sie so sehr weit in der Welt herumgekommen sind und Vieles zu berichten haben, einem wie mir, der in Wollsocken und Pantoffeln davon zu zehren hat. Nein, „nichts ist perfekt auf der Welt“, aber schade, wenn man es verpasst, auf ihr herumzugehen, für den ein oder anderen Eindruck, der einem en passant dennoch ganz perfekt erscheint.
    Freundlichst
    Ihr Herr Hund.

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    • Mein sehr geehrter Herr Hund – ich ziehe den Hut über einer geziehmenden Verboygung.
      Ihr scharfsinniger Blick im Verbund mit überaus listigen Gedankzügenen könnten mich, wäre ich mir Ihrer Freundlichkeiten nicht sicher, in nicht unwesentliche Schrecken versetzen…
      So aber bleibt mir bloss noch staunende Bewunderung und die schleunige Entsendung mittäglichmässigaufreissendgrauhimmelischer Grüsse vom Schwarzen Berg

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      • Den Schrecken können Sie leichter entsorgen als die Stiefel. Er passt nicht und ist auf jeden Fall in Bezug auf mich einige Nummern zu groß. Das nur kurz erwähnt.
        Sagen wollte ich nur bei der Gelegenheit, dass ich, bei Pünktlichkeit meiner Ankunft, bereits morgen dem mir nahen Philosophen einen Besuch abstatten werde und, wenn es sich findet, ihm einen Marzipanpudel auf’s Grab lege; ein Wille aus Marzipan wurde ja noch nicht kreiert.
        Wollte aber hier nur Ihnen noch einmal für die Wegbeschreibung danken.
        Freundlichst
        Ihr Herr Hund

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        • Die Welt als Wille und Marzipan? Herr Hund, Sie sehen mich neuerlich verzückt – – ja, stellen Sie jenes Marzipantier ans Grab. An das Grab, nicht drauf!
          Sie wissen, dass er seinen Pudel allmorgendlich auf der anderen Mainseite, dem südlichen sachsenhäuser Ufer entlangspazierenführte und dabei den dort arbeitenden Dienstmägden unziemliche Reden entgegenbrachte…
          Mittäglichmässigaufreissendgrauhimmelsgewölkerträgliche Grüsse vom Schwarzen Berg

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          • Ja, Schopenhauer verstand sich prächtig auf’s Misanthropieren. Da konnte ihm Keiner das Wasser reichen. Und seinen Pudel, wenn der es zu arg trieb, schimpfte er immer mit „Mensch“. Na ja, jedenfalls, ich schau vorbei. Dann hätte ich meine Top-3 abgearbeitet.
            Freundlichst
            Ihr Herr Hund

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                • Heinrich Hoffmann – Struwwelpetermeuseum, Schubertstrasse 20
                  caricatura museum frankfurt (Museum für Komische Kunst) – Weckmarkt 17

                  Nur mal so am Rande gegen das morbide Moment in Bembelstadt 😉

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                    • Nein nein, der war nie in Frankfurt, nur in Bamberg, auch eine schöne Stadt. Ich habe nur Proust in Paris, Hoffmann in Berlin und diese Woche noch Schopenhauer in Frankfurt auf dem Friedhof besucht. Wohlgemerkt, weil sie mir, sagen Sie ruhig „Ach, wie kitschig“, nahe sind.
                      Im Übrigen liebte ETA den Feuerpunsch. Ohne den hätte es wohl seine besonderen Kunstmärchen nicht gegeben.

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                    • In meiner Berliner Zeit war ich gelegentlich bei Lutter & Wegener. Feuerpunsch als Absturzkatapult 😉
                      Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Aufenthalt in der kleinsten Weltstadt mit dem grössten Herzen

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  3. So herzlich, liebevolle Schuhgeschichten, mir fast danach, auch selbst eine zu dichten.

    Schönen Dank, für’s Teilen von so viel Wohlbefinden.

    Einen schuhtrefflichen Tag, wünscht Silvia Meerbothe

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  4. ….krwawumms, federnd, hinternd, ausgleiten lassen. Juchey, die Feinstunterschiedlichhalbstiefelchen! Das mich die Neugier seit der ersten Erwähnung an der Nasenspitze zupfte, muß sicherlich nicht erwähnt werden. Ein famoser Bericht und eine weitere Facette, danke dafür und erwähnte ich jemals zuvor, die Bloggerey sey fürchterlich? Fürchterlich fetzig! Stiefelchenverliebte Grüße, immer die Ihre.

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  5. So eine schöne Schuhgeschichte! Und mit Bedauern fällt mir ein, dass ich über meine Schuhe eigentlich nichts dergleichen erzählen könnte. Diesen überwältigenden „Die-oder-keine“-Effekt habe ich bei Schuhen noch nicht erlebt. Ich kaufe Schuhe, weil sie ihren Zweck erfüllen – und der kann manchmal auch nur darin bestehen, eine bestimmte Kleiderkombination zu komplettieren.

    Nein, ich hab jetzt tatsächlich noch mal alle meine Schuhe durchgeschaut. Es ist kein Paar dabei, zu dem ich eine andere Geschichte erzählen könnte, als dass ich sie irgendwann im Online-Shop gesehen, bestellt, anprobiert und für passend befunden habe. Trauriges Geschick!

    Dennoch herzallerliebste Grüße!

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    • Schönen Dank für deinen Kommentar – dass du keine Geschichte zu irgendeinem Paar deiner Schuhe erzählen kannst, erstaunt mich in der Tat.
      Blauhimmelsonnigherbstliche Grüsse vom Schwarzen Berg

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      • Ich meinte jetzt eher so eine Geschichte über ein Paar Schuhe, das einem ganz besonders ans Herz gewachsen ist oder bei dem es gleich zu Beginn einen „Diese-oder-keine“-Effekt gegeben hätte. Schuhgeschichten könnte ich durchaus erzählen, aber die meisten wären nicht jugendfrei… 😉

        Spätfeierabendliche Grüße von der Schattentänzerin

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        • Na, eine Schuhgeschichte könntest du also erzählen (auf deinem Blog) – – das ist doch schon ein erster Schritt 😉
          Siebensonnigherbstgoldenwarme Grüsse vom Schwarzen Berg

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  6. Eines Tages werde ich auch so eine (ähnliche) Geschichte erzählen können und mein momentanes Schuhwerk (weder besonders schick noch wildledern oder gar verschieden in der Größe und daher nicht halb so fotogen) über den grünen Klee loben. Vorausgesetzt mein Blog lebt länger als diese bonfortionösen Außentürstiefel, das gleiche Alter haben sie fast…

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  7. ich mag sie die wildledernen! und ich weiß, warum es manchmal nur noch ein paar mit zwei verschieden großen schuhen gibt. dass sie diese so erstanden haben ist märchenhafte fügung. 🙂
    wußten sie, dass fast alle menschen zwei unterschiedlich große füße haben? bei manchen sind die größen bis zu 2 nummern unterschiedlich. und diese haben es sehr schwer im schuhladen. dort gibt es dann aber (wie im märchen) ab und an eine gute fee, die das elend nicht mit ansehen kann und hilft.
    da werden dann einfach mal so ( klamm heimlich, wenn keiner guckt ) zwei schuhe einzeln verkauft.
    soll doch ein anderer verkäufer zusehen, wie er die überbleibsel an den mann oder die frau bringt.

    im übrigen finde ich diese schuhgeschichte so wundervoll, dass ich mich in meiner annahme, männer seien die größeren schuhliebhaber, bestätigt sehe.
    ♥liche grüße

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    • Ihr Hinweis war auch mein zweiter Verdacht damals im Schuhgeschäft: da hat jemand unterschiedliche Füsse und hat dann rumgetauscht 😉
      Ob Männer die grösseren Schuhliebhaber sind? Keine Ahnung, darüber habe ich noch nie nachgedacht.
      Nachmittagblauhimmelsonnigwarmfröhliche Grüsse vom Schwarzen Berg

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  8. Das ist eine smarte Geschichte um wunderbar gebrauchte Schuhe.
    Dieser Spruch muss jetzt hierhin:
    Seien wir doch ehrlich:
    „Wenn ein attraktiver, cooler Mann daher kommt,
    gibt es immer einige Frauen,
    die bereit wären,
    seine Schuhe
    mit ihrem Slip zu putzen!“

    Linda Barry

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  9. Wenn man – wie ich – nach einer 2tägigen Bla-Bla-Tagung aus Berlin zurück kommt, sich den Irrsinn dieser Welt in der Tagesschau anschaut, erfährt, dass ein Siegfried Lenz nun verstorben ist, dann ist so ein Beitrag, wo es um u.a. um Wildleder-Schuhe unterschiedlicher Größe geht … zutiefst symphatisch … von daher: vielen Dank !

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    • Siggi Jepsen – – gerade erst im vergangenen Jahr wieder gehört. Von Lenz selbst gelesen genial.
      Der Lenz war einer, der konnte Geschichten erzählen. Geschichte erzählen.
      Nicht einer von den Eintagsschreiberlingen und Eintagsschreiberlinginnen, die sich den Nabel aufreissen und den übelriechenden Dreck, der dann da rauskommt für abbildungs- und beschreibungswürdig halten. Die kleinen Sensationsmacher, die nach zwei Jahren wieder vergessen sind…
      Spätabendliche Grüsse vom Schwarzen Berg

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  10. Den Lutz Goerner habe ich noch aus DM-Zeiten in einer Sammlung im Regal, muß aber ehrlich gestehen, daß er mich in seiner Art auch ab und an nervt, er ist mir oft zu theatralisch. Natürlich war er einer, der auf diese Art seinerzeit das Interesse für Lyrik geweckt hat, aber inzwischen gibt es noch andere Interpreten auf diesem Gebiet, allen voran Fritz Stavenhagen, anbei mal eine kleine Kostprobe

    xyz.youtube.com/watch?v=4Gf7bDXVXjM

    oder die Videos vom deaprojekt

    mitmüdenfüssenvomerstenbuchmessentagobwohlichdieältestenzwanzigjahreaaltenleisereteranhatteauchwildleder -:))

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    • Da kann ich zustimmen – zwei Stunden Görner sind eine körperliche Leistung des Zuhörers. Aber das geht mir selbst bei anderen Vorlesern zu. Den Goethe-Schiller Briefwechsel, gelesen von Quadflieg und Westphal fing nach Stunden auch an Kraft zu kosten.

      Vom Lutz Görner gabs bei Zweitausendeins in den 1980er Jahren prima Kasetten, z.B. Goethe für Kinder, die hätte ich gerne mal wieder…

      Spätmildabendlichdunkelbiergetränkte Grüsse vom Schwarzen Berg

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