Peking liegt auf der anderen Seite der Gleise

Die Dropkick Murphys spielen auf: Signed and sealed in Blood (2013) rabaukenhaft wild und laut. Der Deckel soll jedoch draufbleiben und darum erklingen später: Eddie and the Hot Rods – Teenage Depression (1976). Pub Rock der besseren Art. Und dann, weil ich heute sowieso schon genug Unangenehmes hören und lesen musste: Kosher Nostra Jewish Gangsters  – Greatest Hits (DJ Shantel) (2011)…

Ich verlasse meinen Schreibtisch um 16:30 und gehe an dem langen Lummerländer Güterbahnhof entlang. Auf der einen Seite der Schienenstränge hin und dann auf der anderen wieder zurück ins Ärmelasühl. Strammer ausgreifender Schritt. Ich will meine Knie wieder üben für längere Wanderungen. Der Frühling kommt näher.
Die alte Fussgängerüberführung ist weg. Wegen Baufälligkeit entfernt. Die verband jahrzehntelang den Ort mit der Siedlung auf der anderen Seite der Bahnanlagen.. Die Siedlung hat einen offiziellen Namen. Aber die Lummerländer Ureinwohner nennen die Siedlung Südtirol. Ist halt weit weg vom alten Ortskern. Ich lasse sie links liegen und gehe schnurstracks auf Peking zu. Naja, die vier, fünf Eisenbahnerhäuser neben einer der Bahnstrecken. Die Häuser wurden zur Zeit der deutschen Pachtzeit in Kiautschou erbaut, deshalb die historisch leicht zu merkende Bezeichnung. Der Name fand sich tatsächlich auf den Strassenkarten früherer Zeiten. Den jüngeren Besucher, Lesern und Guggern sei gesagt, dass Autokarten grosse rechteckige Papierstücke waren, die zur besseren Aufbewahrung klein zusammengefaltet werden konnten. Darauf waren die Strassen verzeichnet und so konnten die Autofahrer zielsicher unterwegs sein. Der sogenannte Lallfritz wird nicht mehr gefaltet, sondern befindet sich als moderner Nachfolger der Landkarte stets im Blickfeld des Wagenlenkers.

Andere Quartiere in Lummerland heissen Brasilien, Marokko oder Jerusalem. Nein, es liegt nicht am abendlichen Bier. So ist das eben, wenn eine Bevölkerung schnell wächst und die Eingeborenen den Überblick über ihr Gemeinwesen behalten möchten. Da müssen Gedächtnisbrücken her. Für den einen oder anderen Esel vielleicht auch eine Eselsbrücke. Aber davon eventuell ein andermal mehr.

Ich mag so eine ganz bestimmte Art von Biografien. Ich selbst habe ja nichts erlebt, vielleicht deswegen. Olaf Kübler hat mir zu der Widmung in seiner Autobiografie den denkwürdigen Merksatz geschrieben: „Alle Tage sind gleich lang aber unterschiedlich breit.“ Die lebenspraktischen Philosophen, diese humorvollen Alltagsbewältiger sind mir die liebsten. Was für ein Leben hat dieser Musiker gelebt. Immer auf der Bühne. Olaf Kübler hat fast allen bekannten deutschen Musikalartisten das Saxophon geblasen. Ein feines Stück deutscher Musikgeschichte und überdies sehr unterhaltsam und kurzweilig zu lesen.
Olaf Kübler: Klartext / Voll daneben. Humbach & Nemazal, Pfaffenhofen 1996.

Zwei Beispiele aus der heutigen Spielliste:
Dropkick Murphys – http://www.youtube.com/watch?v=pFSitUgwmNo
Eddie and the Hot Rods – http://www.youtube.com/watch?v=7gTh8_or39I

(Fotos im Vorübergehn aufgenommen, zum gross gugge einfach anklicken.)

34 Gedanken zu „Peking liegt auf der anderen Seite der Gleise

  1. Unser Lallfritz heißt Jaqueline und Karten sammeln wir weiter, vielleicht wird die Menschheit wieder normal, vielleicht zum Karten lesen gezwungen, so bleiben wir geschmeidig.
    Freundliche Grüße aus dem Frühlingsland, Ihre Arabella

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  2. Eine Lalljaqueline (oder Laberj.?) hat natürlich auch was. Bei uns ist das Apparätchen halt sexistisch korrekt eingestellt, da sich Frauen laut Volksmund angeblich oft verfahren :-)))))
    Von unserem Lallfritz könnte ich allerdings auch einige Begebenheiten dieser Art zum besten geben…

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    • Ich habe für die mir zur Verfügung gestellte Asühldroschke schon nach einem Lallfritz Ausschau gehalten. Dann zum Glück einen Atlas gefunden aus den frühen 1980er Jahren und letzthin in der Eremitage für einen Taler eine neuere Ausgabe von 2012 gefunden 😉

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  3. Das mit dem strammen Schritt, das finde ich ein starkbreites Stück! So dachte ich mir Sie als Genussflaneur. Weit gefehlt. Schade, doch jedem das Seine.
    Mein alter Vater wünschte sich einen kleinen, feinen Autoatlas Europa, der liegt bald in seinem Sprech-Erna-Navi-Auto, handliche Spiralbindung.
    Auch schade, dass man die passenden Gleisdüfte- und Geräusche nicht rüberbringen kann, also mal groß betrachten.
    Gruß von der Eisenbahnerenkelin

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  4. So, so, der Herr Ärmel hat also nix erlebt … Sie Tiefstapler, Sie 😉
    Ihre Überschrift erinnerte mich an einen tibetischen Krimi, in dem es immer wieder hiess: Peking ist weit weg … Paris auch, wie ich kurze Zeit später im Süden Frankreichs lernen durfte, und was ist mit Berlin?
    wie auch immer noch, lassen Sie es sich gut gehen
    herzliche Grüsse

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  5. Als bekennende Livemukkerin gehe ich vor den Dropkick Murphys schlichtweg in die Kniee. In der Tube kann man einen bonfortionösen Mitschnitt vom letzten Hurricane finden. Und falls Sie da über Floggin
    Molly stolpern, Obacht! Nicht weniger großartig…

    Wir weichen bei unseren längeren Automobilfahrten zu gern von der Autobahn ab und lenken uns und unser Augenmerk auf das schöne Land rundherum. Der Beifahrer sucht im Atlas nach möglicher Wegstrecke, was haben wir da schon alles entdeckt.

    Flugs noch eine sanfte Lichtuntermscheffelermahnung und eine Bonfortionössatzbedankung, herzlichst, Ihre Frau Knobloch, zugetan und leichtlivekonzertentzügig.

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    • Eine wunderbare Musikwahl, Herr Ärmel. Da kann ich mich, ebenso im zauberhaften Landschaftsentdecken neben der Wegstrecke, Frau Knobloch nur anschließen. Die Dropkick Murphys erst letzte Woche wieder live erlebt, eine der fantastischsten unter den fantastischen Livebands.
      Ein schönes Wochenende mit viel Musik Ihnen beiden!

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      • Normalerweise achte ich darauf, dem jeweiligen Hausherrn die Erstbeantwortung von Kommentaren zu überlassen, doch hier kann ich nicht an mich halten, bitte sehenSes mir nach, mein lieber Herr Ärmel…

        Frau Ella! Ein Feinstrügchen! Haben Sie mein Schlußwort nicht gelesen?! Da steht „leichtlivekonzertentzügig“! Und Sie kommen fröhlich daher und plaudern von letztwöchentlicher Verdropkickmurphysierung! Ich muß doch sehrst bitten! Ich glaube, ich muß zur Strafe endgültig Ihre Fährte aufnehmen. Muß man doch im Auge behalten, solche Bonfortionösneidbefeuerer.
        Murmeligkringelige Grüße, die Ihre, ein ebenso musikkelastiges Wochenende wünschend.

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    • Selbstredend danke ich Ihnen, hochwertgeschätzte Frau für Ihren Kommentar und den Hinweis auf die Molly. Die ist bereits reichlich vertreten im Ärmelarchiv …
      Und genau das Finden von nicht Gesuchtem per Landkarte, das sind noch immer die wahren Entdeckungen meiner Meinung nach….
      Abendschöne Grüsse aus dem abwechslungsreichen Bembelland, Ihr Herr Ärmel (zugeneigt)

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  6. Klartext, voll daneben…der ist für mich…danke, Herr Ärmel, darüber lache ich eine ganze Weile…😊

    Tolle Namen…phantasievoller Pragmatismus, wie damals die euphorische Betitelung neuer Länder in Amerika….

    ‚Die Ärmel’schen Knie beugen sich fürs Detail und gewinnen weiter an Stärke wie die Sonne.‘

    Für Ihre Knie ein Karfunkelzauberspruch zum Drauflegen nach langen Wanderungen wie den warmen Sonnenstrahl aufs müde Gesicht.

    Was schruben Sie? Sie lesen Biographien anderer, weil Sie selbst zu wenig erlebt haben?
    Das ist nicht Ihr Ernst…😎

    Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
    Die Stare sind wieder da. So ein lustiges Volk. Der ganze große kahle Baum sitzt voll von denen und singt und palavert…was für ein Radau…✨

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    • Ich danke Ihnen für den Auflegezauberspruch hoffe jedoch gleichwohl, ihn alsbald nur in der Reserve halten zu können, da meine Knie wie gewohnt ihren Dienst tun werden.
      Und Stare sind natürlich klasse – allemal
      Abendschöne Grüsse aus dem abwechslungsreichen Bembelland

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  7. Der Lallfritz? Köstlich!
    Und Ihre Beschreibung der Straßenkarten ist ebenfalls wunderbar. Wenn ich den Lallfritz auch ganz praktisch finde, so verlasse ich mich doch immer noch gerne auf eine Straßenkarte.
    Um Alternativrouten zu finden, sind die allemal besser. Und manches Eck, in das man sich mit Karte verirrte, hätte man mit dem Lallfritz einfach nie entdeckt. Sich verfahren, kann auch schön sein. Oder interssant.

    Meine Ehrerbietung Richtung Lummerland,
    Ihre Silvia Meerbothe

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  8. Ich bin auch an allen Tagen gleich lang, aber unterschiedlich breit *g*

    Wo Du es jetzt erwähnt hast geht mir erst auf, welche Vorteile Landkarten haben gegenüber den Lallfritzen. Erinnert mich an Touren in das spanische Hinterland und Orte, die ich ohne Karte nie entdeckt hätte, weil der Lallfritz ja nur die unmittelbare Umgebung anzeigt. Auf Karten entdeckt man aber Serpentinen (immer interessant) ,hügelige Gegenden, abgelegene Dörfer…

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    • „grosse rechteckige Papierstücke… die zur besseren Aufbewahrung klein zusammengefaltet werden konnten.“

      jajaja. FALK Pläne! Das Grauen schlechthin, die Dinger hab ich gehasst wie die Pest, man brauchte drei Meter Platz und eine halbe Stunde um den Sch.. wieder richtig zu falten.*g*

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  9. Ihre Beobachtungen hinsichtlich der Bezeichnung von Stadtvierteln durch die jeweils Eingeborenen fand ich interessant, kenne ich so aus München nicht. Allerdings kenne ich dann solche Bezeichnungen wie „Glasscherbn-Viertel“, damit meinte man in München Viertel wie Giesing und Westend (in denen nicht die „hochwertige“ Gesellschaft lebte).

    Und dass Sie den guten alten Olaf Kübler erwähnt haben, verdient einen besonderen Dank … Der Kübler war und ist wohl so ein ganz schräger Vogel, ne Rampensau oder so … und er hat deutsche Musikgeschichte mitgeschrieben … und das nicht zu knapp.Leider kenne ich seine Biographie noch nicht; ich glaub´, darum muss ich mich jetzt mal kümmern ….

    Früher hatte ich immer so einen dicken, roten Shell-Atlas … es war für mich immer Freude pur, vor eine Unternehmung/Reise mit dem Finger über die Straßenkarten zu fahren … man mache das mal mit dem Display eines dieser neuen Geräte …

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    • Ja, das Sonderbare hier in Lummerland ist die Verbindung solcher Quartiere mit geografischen oder historischen Anklängen. Peking = Boxeraufstand, Südtirol = weit weg, Marokko = dort waren nach dem WK I die afrikanischen Soldaten der französischen Armee gelagert, Jerusalem = Arbeitersiedlung im Bauhausstil (Flachdächer!) und Brasilien = Einfachstbehausungen aus Holz und auf Stelzen für die Ausgebombten aus Mainz (vom 27. 2. 1945) nach 1950 Lummerländer Sozialwohnungen für kinderreiche Fürsorgeempfänger.

      Genau, den dicken Roten hatte ich auch. Später den 26er Satz Generalkarten – einmalig und zehmal interessanter und besser als ein Lallfritz oder eine Labersusi.
      Und die Kübler Biografie wird Ihnen sicherlich zusagen.

      Abendschöne Grüsse aus dem klingenden Bembelland

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