Tage im März

Ein Lächeln beim Aufwachen. Im Ohr noch immer die Musik von – Rich Hopkins & Lisa Novak – Loveland (2008). Zum Schreiben am frühen Morgen: Marilyn Mazur & Jan Garbarek – Elixir (2008)…

I. Die Erlebnisse liegen weit zurück inzwischen. Nicht so lange, wie die jenes Herrn Castorp schon ganz mit Edelrost überzogenen und daher auch in der einfachen Form der Vergangenheit zu erzählen.
Ich las Buch im Spätjahr 1997. Es zog mich schon auf den ersten Seiten in seinen Bann. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die erzählten Personen war, die Landschaft oder die Stimmung überhaupt. Heute will mir scheinen, dass es die Befindlichkeit des Erzählers war, die mich so tief beeindruckte.

„Der im Laufe des Tages des öfteren schon in mir aufgestiegene Wunsch, der, wie ich befürchtete, für immer entschwundenen Wirklichkeit durch einen Blickaus diesem sonderbarerweise mit einem schwarzen Netz verhängten Krankenhausfenster mich zu versichern.“

II. Mein Vorschlag, die Zeiten unserer Treffen zu allseitigen Vorteilen zu verändern, war angenommen worden. Wir beendeten unser Treffen und verabschiedeten uns mit den üblichen flachen Floskeln. Es war im März, auf den Wiesen blühten Blumenteppiche und ich hatte jetzt das Wochenende vor mir mit den schönsten Plänen.
Ich nahm die A262 nach Norden. Von der endlos scheinenden Brücke schaute ich nach rechts hinüber. In der weit ausufernden Flussmündung war die Insel zu sehen. Auf dem Friedhof der Insel lag einer meiner literarischen Hausgötter. Sein Stammpub war vor einigen Jahren geschlossen worden, aber das Schild „zu verkaufen“ hängt auch heute noch gut sichtbar an der Marine Parade Ecke Alma Road.

III. Ich freute mich jedoch auf die Landschaft eines Malers. Schon einige Male war ich zuvor dort gewesen. An der Mühle mietete ich mir einen dieser flachen Kähne und ruderstakte gemächlich auf dem flachen, kaum vier Meter breiten River Stour gemächlich dahin. Vor einigen Jahren hatte ich mir eine Ansichtskarte gekauft, auf der eine Vedute von John Constable abgebildet war. Um selbst eine Fotografie dieser Ansicht aufzunehmen, suchte ich jetzt diesen Platz. An sich ein aberwitziges Unterfangen, den gemalten Ausschnitt einer Landschaft nach fast zweihundert Jahren wiederfinden zu wollen. An einer Stelle, die mir passend schien, machte ich den Kahn fest und ging am Ufer entlang. Endlich stand ich an der Stelle, von der aus Constable sein Bild malte. Ich verglich die Details auf der Reproduktion der Ansichtskarte mit der vor mir liegenden Natur. Es war mir unmöglich zu fotografieren. Ich war sonderbar überwältigt, beim genauen Betrachten der Szenerie hatte ich den Eindruck, aus der Zeit gefallen zu sein. Manche Bäume waren höher, gewiss; ein Buschwerk versetzt; aber der Bewuchs um den Kirchturm, der über den Baumkronen zu sehen war, schien seit zwei Jahrunderten unverändert. Selbst die Bäume um die kleine Ansiedelung hatten noch fast die gleiche Silhouette.

IV. „Kaum drei Eichen haben die grössten Geschlechter überdauert. Den eigenen Namen auf irgendein Werk zu setzen, sichert niemandem das Anrecht auf Erinnerung, denn wer weiss, ob nicht gerade die besten spurlos verschwunden sind. Der Mohnsamen geht überall auf, und wenn an einem Sommertag unversehens das Elend wie Schnee über uns kommt, wünschen wir nurmehr, vergessen zu werden.“

V. Gegen Abend gab ich den Kahn zurück. Ich war noch immer leicht benommen und statt mir wie geplant, hier ein kleines Hotel zu suchen, bemerkte ich nach einigen Kilometern, dass ich nach Süden unterwegs war. Bei Colchester bog ich jedoch einer plötzlichen Idee folgend, rechts auf die A134. Die schmale Landstrasse führte nach Long Melford.
In dem
kleinen Hotel war es ganz still. Ich erschrak bei dem Klang der Stimme und der herzlichen Begrüssung. Ein Zimmer würde man mir gerne herrichten. Und um mir die Wartezeit bis dahin zu verkürzen, kredenzte man mir einen Portwein in einem fein geschliffenen alten Glas. Das Ticken der mächtigen Standuhr wurde begleitet dem sanften Geprassel knackenden Holzes im Kamin.
Als ich meine kleine Reisetasche auf das frisch bezogene Bett legte war ich im 19. Jahrhundert angekommen. Unten im Restaurant war ich der einzige Gast. Wie gut man in England essen kann, das hatte ich schon des öfteren geniessen dürfen. Der Koch hatte die Ente köstlich zubereitet.

Gäste betraten das Restaurant. Der Begrüssung entnahm ich, dass jenes Ehepaar im Haus bekannt sein musste. Nachdem wir alle gespeist hatten, sprach mich der Herr an. Wir nahmen Platz vor dem Kamin.

                       (Von dieser kurzen Reise gibt es nur wenige Fotos – dafür demnächst aber eine Fortsetzung)
Long Melford - The black Lion

24 Gedanken zu „Tage im März

  1. Ein sonniges Guten Morgen in Ihre Klause, lieber Herr Ärmel,

    Der Ring des Saturn hatten Sie im Kopf oder Reisegepäck bei Ihrer Erkundung dieser Constable Landschaft….ich beneide Sie ein wenig um diese Reiserückerinnerung, denn bisher habe ich es noch nicht geschafft, England zu erkunden; wie so oft bin ich da nur ein Armchairtraveller, aber Herr Sebald ist ein so vortrefflicher Erzähler, er ersetzt fast die Wirklichkeit.
    ..und natürlich bin ich auch neugierig auf Ihre Fortsetzung….

    sonnengenußvolle Wochenendtage wünscht Ihnen

    Karin

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  2. Sie!!!!, lieber Herr Ärmel, ich war ja noch nicht vor Ort, nur in den Buchseiten und der Ihnen eigene Blick ist ja wieder ein anderer, also frisch ans Werk….Ihres meine ich -:)))

    habe soeben 50 Hornveilchen, Narzissen, 20 Bellies unter die Töpfe gepflanzt, die Rosen gedüngt, zum ersten Mal gespritzt und Erde aufgefüllt; auf der Nordseite ist es noch ganz schön frisch, aber das erste Blühende entschädigt …. der wirkliche Frühling kann kommen

    mitfingerkaltenDachterrasseGrüßen

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  3. „Wie gut man in England essen kann, das hatte ich schon des öfteren geniessen dürfen.“
    Die tickende mächtige Standuhr und den prasselnden Kamin kann ich mir in einem englischen Landhaus sehr gut vorstellen, für das gute Essen fehlt mir ein wenig die Fantasie *fg*

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    • Wenn zwischen englischen Stadien und dem Strand von Weymouth nur an Fish&Chips Buden einkehrst, dann verstehe ich dich.
      In England gibts – auch auf dem Land – hervorragende Köche und superlecker Essen. Und in England gibts auch gut trinkbare Weine.
      Und die morgendlichen Eier (sunny side up) werden auch nicht überall in Kokosfett gebraten 🙂

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  4. Schöne Reiseerinnerungen, werter Herr Ärmel. Ganz besonders eindrucksvoll ist Ihre Perspektivensuche über eine 200 Jahre alte Abbildung, isn’t it, old chap?

    Die Sonne noch in frischester Erinnerung, grüße ich vom nun beschatteten Platz

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    • Also mein Eindruck war, dass es eher an der Schreibweise von Sebald liegt. Wenn allerdings die Herbststürme über diese flachen, dicht am Meer liegenden Landschaften fegt, kann ich mir das schon ziemlich trostlos vorstellen.

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