Landschaften lesen

Mir gehts einfach gut heute: Genesis – Nursery Cryme (1971)…

Der Hohlwêg, des -es, plur. die -e, ein hohler, d.i. tief ausgefahrner oder von dem Wasser ausgehöhlter Weg; im gemeinen Leben ein Schluchter, eine Schlucht. (Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1793–1801, Bd. 2, S. 1259.) Der erste Versuch einer Katalogisierung der deutschen Sprache.
Die Brüder Grimm erlebten die Vollendung ihres berühmten Wörterbuchs und somit auch Lieferung 10,8 im Jahr 1874 nicht mehr. Der dortige Eintrag zu dem Wort Hohlweg bleibt dürftig.

Mit den Landschaften verhält es sich in aller Regel wie mit den Haaren. Wer mit natürlichen Locken gesegnet ist, wünscht sich glatte Haare und umgekehrt. Der eine zieht gebirgichte Erhebungen vor, die andere liebt das Flachland mit weiten Ebenen. Und wieder andere brauchen den Blick über schier endlose Wasserflächen.
Glücklich sind die Bembellandbewohner, sie sind mit allen Landschaftsformen gesegnet, wenn auch in bescheidener Ausprägung. Ich liebe alle Landschaften, in Maassen allerdings. Lawinenabgänge reizen mich ebenso wenig wie Sturmfluten. Alle vier Jahreszeiten in absehbaren Wechseln halten meine vier Temperamente in ausgeglichener Balance und mich mit der landschaftlichen Umgebung in Harmonie.

Flora und Fauna kann ich bewundern, meiner Lernfähigkeit geben sie schier unlösbare Aufgaben. Allein schon die vielen verschiedenen Namen. Der schwere Lapsus in meinem letzten Beitrag, in dem ich Klee mit Raps verwechselte, und der dann obendrein noch als Ackersenf indentifiziert worden ist (schönen Dank Frau Mahlzahn!) bereitete mir eine Nacht lang ungute Träume. – – – Landschaften.

In einem öffentlichen Bücherschrank stand das Buch. C.H.Beck ist ein Verlag meines Vertrauens. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, so der Untertitel, versprach einen mir gemässen Überblick. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Einige Kapitel, in denen es um Getreidearten und anderes Pflanzliches ging, werde ich langsam lesen, ich gebe die Hoffnung nicht auf, noch nicht.
Die anderen Kapitel hingegen haben schon bei der ersten Lektüre meinen Blick in die Landschaft nachhaltig verändert. Wie entstanden die ersten Dörfer? Wieso entstanden sie dort, wo man noch heute ihre Spuren finden kann. Welche Pflanzen bevölkerten die Landschaft nach der Eiszeit als erste? Warum sind bestimmte Städte Industriestädte geworden und andere eben nicht?
Was hat all das mit den umgebenden Landschaft zu tun? Der Titel des Werkes hat mich eine Weile irritiert, denn der Inhalt bezieht sich weitgehend auf ein Territorium, das wir heute Deutschland nennen. Und das ist so erst seit relativ kurzer Zeit. Aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist er natürlich exakt. Der Autor ist Professor für Pflanzenökologie (und das mir) und am Institut für Geobotanik der Universität Hannover tätig.
Jedem interessierten Landschaftsgänger empfehle ich das Buch uneingeschränkt. Mein Blick auf das Bembelland und unsere ehemalige Kolonie Rheinhessen hat sich völlig verändert seit der Lektüre. Die Landschaft beginnt, mit mir zu sprechen.

Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München, 1999². 424S.

Was das jetzt mit Hohlwegen zu tun hat?
Ich habe eher beiläufig einen Wanderweg zwischen Worms und Mainz entdeckt. Er hat mich beeindruckt und bei einer genaueren Recherche fand ich heraus, dass von diesem Weg andere, kleinere Wege mit besonderen Eigenschaften abzweigen. Rund um ein Dorf beispielsweise gibt es Rundstrecken mit zahlreichen Hohlwegen. Hier in dieser an Lössböden reichen Gegend mit ihren geologischen Verwerfungen haben sich diese Hohlwege gebildet.

Um das erwähnte Dorf sind sechs verschiedene Routen ausgeschildert. Ich entschied mich blind für die längste, etwa zehn Kilometer lange Strecke. Zwei Stunden, so rechnete ich, nur mal gugge, ob das was taugt. Es kam anders. Die Hohlwege sind teilweise wirklich beeindruckend. Aber grosse Teile der Strecke Nummer 5 führen über offenes Gelände in den Weinbergen. Das fand ich enttäuschend. Die Sonne schien prall und duldete keine Wolken neben sich und so schritt ich munter weiter. Ein erstes Wiedererleben von Sommer.

„Haben Sie Hunde?“
„Nein, Sie?“
Dabei hatte ich die drei Flohschleudern schon längst gesehen. Die Frau blieb mit ihren Leinen unschlüssig stehen. Ich fotografierte einen Wegstein. Mal von hier, mal von da. Langsam kam sie dennoch näher und wir schnell in ein Gespräch. Sie kennt sich aus hier. Kennt die Hohlwege. Als Hundezüchertin von Hütehunden ist sie hier tagtäglich unterwegs. Die Tiere brauchen Auslauf, nicht unter fünf Kilometer am Tag. Wir gehen etwa zwei Kilometer nebeneinander. Sie gibt mir mehr wertvolle Hinweise als ich behalten kann.
An einer Weggabelung trennen sich unsere Wege. Sie hatte mir viel berichtet von einigen Besonderheiten, die es nur hier zu sehen gäbe. Ich danke Ihnen von hier aus, fremde Frau.
„Und vergessen Sie nicht die wilden Tulpen in dem Wingert in G** O***. Die einzigen, die es hier noch gibt.“
Als ich weitergehe zur Robinienhohl fällt mir das altgriechische Verb ein. Therapeutein, ein Stück des Weges begleiten oder auch das Nomen Therapeutos, der Weggefährte. So ist das wirkliche Leben…

Zurück im Dorf, betrete ich eine Metzgerei. Die feiste Metzgerfrau verspricht unausgeprochen erste Qualität. Die Zungenblutwurst springt mich fast aus der Theke an.
„Machen Sie bitte mir so ein schönes Brötchen mit dieser leckeren Zungenblutwurst?“
„Derrfs aach e bissi e dickeri Scheib soi?“
„Freilisch, awwer wieviel issn dicker?“ Ich spreche viele Sprachen, dennoch mag ich keinen Ziegel im Brötchen.„Ei, dreimol se dick wie e normali.“
Da in diesen Gegenden auch dünne Scheibchen eine schmale Brettstärke haben, passt das schon.

Hohlwege sind geheimnisvoll. Besonders in den dunkleren Jahreszeiten. Geheimnisvolle Geschichten können einem da einfallen. Eine, die gerade dazu gepostet hat, ist die Frau Graugans. Horsche und gugge lohnt sich.

Ich wünsche schon jetzt allen Besuchern,. Lesern und Guggern ein schönes Wochenende. Ich bin dann mal weg..

(Fotos gross anklicken und in Hohlwege eintreten. Bild in Originalgrösse anklicken und anschliessend noch F11 drücken zeigts noch schöner)

48 Gedanken zu „Landschaften lesen

  1. Das mit dem Raps hatte ich für einen Scherz gehalten, aber jetzt protestiert die Gräzistin in mir. Therapeuein – ohne t. (Bitte nicht hauen 😦 )

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    • Hier wird niemand gehauen, jedenfalls fast niemand.
      Und für einen Auffrischungskurs in Altgriechisch werde ich mich auch anmelden. Was man nicht alles vergisst im Lauf der Zeit 😉
      Morgendlichschöne Grüsse aus dem stellenweise antiken Bembelland

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        • Schreiwe ist richtig geschrieben, Sie haben in diesem Fall das unwahrscheinliche Glück, dass Sie für den ungeheuerlichen Lapsus „Pfälzisch“ jetzt nicht sofort standrechtlich erschossen werden (da hilft auch keine geklammerte Vermutung).
          In diesem Fall geht das wegen der phonetischen Gleichheit nämlich in Ordnung.
          Schreiben Sie bei regionalen Zuordnungen fürderhin doch einfach bembelländisch (meinethalben auch hessisch, das geht schneller von der Hand), da werden Sie fast immer richtig liegen, zudem ohne Gefahr für Leib und Leben. 😉

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            • Jetz isses awwer gud!
              Otto Höpfner und Heinz Schenk waren zwei verschiedene Wirte im Blauen Bock.
              Da fällt mir die Frage ein, ob auch innere Augen Fehlsichtigkeiten haben können… *grübel* 😉

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              • Lassen wir das. Mit dem Bembelwort kann ich mich trotzdem nicht anfreunden. Äppelwoi oder Äbbelwoi (egal, ich schlag das nicht nach) brauch ich auch nicht. Cider und Cidre munden mir besser.

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  2. Großartig, Herr Ärmel, wunderbarer Text…Mensch, wie Sie schreiben können, da hauts mich fast um, Sie werden immer noch besser und brillianter, ein ganz großes Lesevergnügen! Also, heute muß ja ein besonderer Tag gewesen sein, so schön, wie die Fotos sind! Ich danke Ihnen und werde bald auch Hohlwege begehen bei uns, vor allem jetzt, da ich so umfassend darüber informiert bin, sehr interessant so ein Schluchter. Und nochmal Extradank für die Mitarbeit im „Koselbruch“ und, daß Sie es hier erwähnen! Wünsche weiterhin fröhliche Begehungen, machen Sie´s gut, viele liebe Grüsse von der Graugans

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    • Liebe Frau Graugans, ihr überschwänglicher Kommentar plättet mich. Seien Sie bedankt dafür!
      Und gehen Sie nicht irre in Hohlwegen.
      Morgendlichschöne Grüsse aus dem sonnigen Bembelland.
      Herr Ärmel

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  3. Ei härrlisch verehrter Herr Ämmel, was Sie uns da zeigen dun und erscht das Buch, das mecht ja nu rischtisch neigierrisch und da hab ischet jleich ma notiert, jo, und dass es Ihnen so gut gehen tut, des froit misch aach …
    herzlisch Ihre Frau Babbelulli un noch en schönes Wochenend, gäll?!

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      • wie mich das freut und gerade eben fällt mir ein, dass ich letztens von Ihnen geträumt habe … ja wirklich, da war Einer und der hieß Herr Ärmel und wir haben viel gelacht!
        sonnige Grüße aus der Auszeit und aus dem Norden
        Ulli

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  4. So’n Zufall. Heute mittag hatte ich eine „Best of“ Genesis in den Händen, und dann hab ich lautstark wie immer überlegt, mir mal wieder „Musical Box“ anzuhören. Mach ich grad und warte auf’s Grand Finale!
    Und das ist klasse.
    „Why don’t you touch me, now!!

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  5. Vielen Dank für den lehrreichen Artikel, trotz Hohlweg gar nicht hohl. Was passiert wohl, wenn sich Hohlweg und Holzweg kreuzen? Die Buchempfehlung greife ich gerne auf, auch dafür besten Dank. Ich lebe zwar am sehr flachen Niederrhein, und doch gibt es auch hier ein paar Hohlwege, man mag es kaum glauben. Die haben wir den Endmoränen zu verdanken, beides mag ich sehr in unserer flachen Landschaft.

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    • Ich gebe mir alleweil Mühe, keine hohlen Berichte zu verbreiten. In Hohlwegen herrscht in der Tat eine ganz eigene Stimmung. Es lohnt, dem einmal nachzuspüren.
      Morgendlichschöne Grüsse aus dem erfüllenden Bembelland

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  6. Frau Mahlzahn ist begeistert!
    Endlich eine verwandte Seele, die sich für Holwege begeistern kann. Sie sind durch Flurbereinigung, Agrarreformen und industrialisierte Landwirtschaft so selten geworden! Auf jeden Fall kann ich ergänzen, dass es Hohlwege nur in Lössgebieten gibt. Es ist die besondere Eigenschaft dieses eiszeitlichen Auswehungsproduktes, eine sehr große Haft- und damit Standfähigkeit zu haben. Das lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes begreifen: Man nehme ein wenig Löss zwischen die Finger und zerreibe. Kein Körnchen lässt sich spüren! Ist ein universitärer Lehrkörper mit seinen Eleven erstmals im Lössgebiet, dann bittet er seine Eleven, diesen Löss doch einmal zwischen die Zähne zu nehmen. Und tatsächlich: hier erst merkt man das Knirschen.
    Und noch ein Nachtrag: Auch die Angelsachsen sprechen von diesem wunderbaren Sediment als von „loess“.

    Beste Grüße nach Bembelland

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    • Oh, anerkennende Aus Ihrer Tastatur, ich danke mit einer geziemenden Verboygung.
      Leider sind in jenen Hohlwegen Menschen unterwegs, die den Löss entfernen, um sich daraus Heilerde zu bereiten. Damit werden einige Standorte seltener Pflanzen beschädigt, So jedenfalls meine Kurzzeitbegleiterin.
      Ihnen einen schönen Tag gewünscht nach Süden.

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  7. Ei, ei, das gleiche Buch befindet sich auch im Besitz meines lieben F. allerdings hat er es gerade bei mir abgelagert und so liegt es gerade neben mir. F findet es auch sehr interessant und meint, dass es seinen Blick auf viele Landschaften verändert hätte. Da werde ich eben auch ein bissl hineinlesen…..

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  8. Aaach ja, die Wildtulpen und die Metzgereien, was wäre das HIER ohne!
    Meine Wahlheimat strahlt so richtig unter Ihren textbildlichen Beschreibungen!
    Einzig störe ich mich an dem kleinen, jedoch vielsagenden Wörtchen „feist“. Finde ich nicht fein – aber jedem seine ureigene Wortwahl!
    Gruß von einer frierenden Runden

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    • Ach, Sie konnotieren feist negativ? Woher kommt das denn?
      Grundsätzlich ist das Wort doch wertfrei. Da seien die Herren meine Eideshelfer:
      2) von menschen. ahd. feiჳitêr, corpulentus; mhd. feiჳet sind die liute.
      Bsp.: nhd. der apt hat euch ie wol geraten zu gutem trank und feiszten praten. (fastn. 200) cit. nach: Jakob und Wilhelm Grimm :Deutsches Wörterbuch, Bd.3, Sp. 1468)

      Was hingegen die Wildtulpen angeht, da käme mir eine Auskennerin gerade recht. Sie wissen, wo welche stehen und zu bewundern sind?
      Gruss von der glitschigen Fähre.

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  9. Lieber Herr Ärmel, in Ihrem ersten Satz steckt bereits so viel Gutes und Schönes. da hätte ich beglückt fast schon wieder aufgehört zu lesen. Aber ich liebe auch Hohlwege, C.H. Beck und Landschaft. Und Ihre Beschreibungen Ihrer Erlebnisse.

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