Auf dem Weg nach Osten (eine Annäherung)

Johann Friedrich Fasch (1688–1758) – Gitarrenkonzert D-moll …

Meine erste Station ist Berlin, wo ich bei Verwandten gastlich aufgenommen werde. Der grosse Wannsee ist nahe. Dort liessen sich um 1900 Bankiers, Industrielle oder Künstler wie Max Liebermann ihre mondänen Villen errichten. Eine Villa zieht mich besonders an, denn sie steht in einem gewissen Zusammenhang mit der Reise.

Der Bauherr war Ernst Marlier, ein Fabrikant zwielichtiger pharmazeutischer Produkte, der das über 30.000 Quadratmeter grosse Grundstück für eine halbe Million Mark ankaufte und sich darauf ein prächtiges Gebäude von dem Architekten Paul Baumgarten entwerfen liess. Im Jahr 1921 verkaufte Marlier an den vormaligen Generaldirektor der Stinnes AG das Anwesen für etwa 2,3 Millionen Mark.
Minoux war mit seiner „Friedrich Minoux AG für Handel und Industrie“ in bedeutende Betrugsgeschäfte verwickelt und verkaufte 1940 aus dem Gefängnis heraus die gesamte Immobilie für 1,9 Millionen Mark an die Stiftung Nordhav. Reinhard Heydrich war der Vorstand dieser Stiftung, „deren Zweck die Schaffung und Erhaltung von Erholungsheimen für die Angehörigen des Sicherheitsdienstes der SS und deren Familienangehörige war.“ (Zitat von der Webseite, zu erreichen über den angebenen Link)

In diesem Haus fand am 20. Januar 1942 die sogenannte Wannsee-Konferenz statt, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen worden ist. Weitere Informationen finden sich auf der sehr informativen Seite der Gedenkstätte, die in diesem Gebäude heute ansässig ist.

Ich gehe durch die Räume und sehe mir die Ausstellung an. Im ehemaligen Speisezimmer, dem späteren Sitzungsaal der Konferenz sitzt eine Gruppe und hört einem Vortrag zu. In den anderen Räumen sind fast keine Besucher zu dieser Stunde. Unter meinen Füssen entfaltet sich das knarzende Geräusch des alten Parketts. Ich bemerke, dass ich unaufmerksam bin. Ich lese die Texte nur flüchtig, überfliege die Bilder und meine Fotos stellen mich nicht zufrieden. Die innere Unruhe nimmt zu, mir wird richtiggehend übel. Ich schiebe es auf schlechte Luft, draussen scheint auch ein Gewitter aufzuziehen.
Plötzlich nehme ich die zackigen Schritte von schweren polierten Stiefeln wahr. Die Teilnehmer der Konferenz haben ebendieses Parkett zweiundsiebzig Jahre vor mir betreten. Wie waren diese Menschen konfiguriert, um den Mord an elf Millionen Menschen zu planen? Wusste der Protokollant der Besprechungen, Adolf Eichmann zu diesem Zeitpunkt bereits, dass er nur mit Hilfe der Rechenmaschinen der us-amerikanischen Firma IBM den Vernichtungsplan würde organisieren können?
Ich gehe nach draussen und drehe mir eine Zigarette. Vor dem Portal steht der Bus der Reisegruppe, die den Vortrag anhört Der Garten ist heute so gepflegt wie damals. Der Blick auf den Wannsee. Im Januar des 1942er Jahres war strenger Frost. Ob sich die fünfzehn Teilnehmer in den Sitzungspausen hier die Beine vertreten und eine feine Zigarette mit Orienttabak geraucht haben?

Ich gehe wieder nach drinnen. Die Vortragende ist hervorragend informiert. Die Zuhörer sind vorwiegend ältere Menschen. Wie viele engagierte Vortragende, will die Dame ihr umfangreiches Wissen weitergeben; die ersten Zuhörer dösen bereits, manche verlassen den Raum.
In der Küche, das habe ich beiläufig gehört, seien noch die Kacheln der ursprünglichen Einrichtung. Welches Menu lassen sich Menschen munden, die eben dabei sind, die Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu organisieren? Haben sie geschwiegen, während sie bedient worden sind?
Wie aber das Unbegreifliche begreifen?

Eine weibliche Automatenstimme wiederholte immer wieder dieselbe monotone Anweisung durch den ganzen Flughafen. »Melden Sie auffälliges Verhalten. Melden Sie auffälliges Verhalten«. Als ich mich dem Gate näherte wurde sie von der Stimme einer anderen Frau übertönt. – Wir sind ein Land von Spionen, rief sie, die sich gegenseitig bespitzeln. Früher haben wir einander geholfen! Früher waren wir freundlich! (Patti Smith, M Train, S.62)

Ich verlasse Berlin auf der Autobahn über den Berliner Ring und die A12 in Richtung Frankfurt/Oder. Spontan entscheide ich mich an der Ausfahrt 7, Müllrose, abzufahren, um Seelow anzusteuern. Genauer, die Seelower Höhen.

                                                                            (Foto anklicken öffnet eine Galerie)

 

20 Gedanken zu „Auf dem Weg nach Osten (eine Annäherung)

  1. Beim Lesen merke ich, diese Übelkeit, die hätte mich vermutlich auch erreicht. Die Frage, wie konnten diese Menschen nur, beschäftigt mich immer, wenn es um diese Themen geht. Konnten sie überhaupt ruhig schlafen, in den Spiegel sehen…? Ach, da haben Sie sich aber ein Paket vorgenommen, bester Herr Ärmel. Möge die Natur und das was Sie sonst an feinen Eindrücken mitnehmen und nahmen ein gutes Gegengewicht sein!

    Auf die Bildeindrücke freue ich mich.

    Beste Grüße,
    Silbia

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    • Orte des historischen Schreckens und Grauens besuche ich bereits seit Jahren. Keinerlei Abstumpfung ist dabei eingetreten.
      Die Eindrücke werden gelindert durch andere Schönheiten in der Welt.
      Schöne Grüsse aus dem Bembelland,
      Herr Ärmel

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  2. Ich mag es, wie Sie den Pragmatismus nutzen, um Vergangenes anschaulicher zu machen, es ins Jetzt zu holen. Einige der Fakten sind mir neu. Ich kann an solche Orte nicht gehen, das ist schwer auszuhalten da. Ihnen wünsche ich interessante Einsichten und genügend Schönes auf der Weiterreise.

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  3. Eindrucksvoll das Parkett-Bild ! Die Frage für welches Menü man sich wohl entscheidet, wenn man gerade ein Genozid beschlossen hat, bleibt einem auch länger im Kopf hängen. Überhaupt die Frage nach dem gigantischen Abstraktionsvermögen des Menschen…..

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    • Um es exakter zu formulieren. Im Prinzip war der Genozid bei einigen Teilnehmern bereits beschlossene Sache.
      Es ging in den Besprechungen wohl hauptsächlich darum, die anwesenden Vertreter verschiedener Organisationen, die durchaus auch gegeneinander konkurrierten, auf eine reibungslose und aalglatte Kooperation einzustimmen.

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  4. Ihre beiden Artikel habe ich mit großem Interesse gelesen.

    Vernutlich waren diese Herren von ihrer Idee so angetan, dass sie gut gespeist haben.
    Schon erstaunlich dieser Irrsinn in den Köpfen. ..gestern wie heute.

    Gespannte Grüße, Ihre Arabella

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  5. Dieser ärmel’sche Text über das Vergangene mit dem aktuell darübergelegten Fasch’schen Gitarrenkonzert (läuft hier eben) und der Smith’schen Lyrik garniert ist ein besonderes Menu; macht das Leichte das Schwere leicht oder überspitzt es das Gewesene, indem man es in einer imaginären Welt zusammenbringt? Ein Memory der Jahrhunderte, das zeigt, dass sich manches nicht verändert hat, und auch nie verändern wird.
    Es ist gut, dass es diese Stätten noch gibt, aber wie lange noch? Je weiter man sich entfernt, desto mehr Bausteine des Gewesenen können anders geschichtet werden.
    Wir sollten uns nicht nur fragen, wie dies passieren konnte, sondern bewusst machen, dass es wieder und wieder geschehen kann und somit gilt es sich nicht über die Gnade der späten Geburt an sich zu freuen, sondern dass uns die Gnade der späten Geburt die Möglichkeit eröffnet, aktiv an einer Verhinderung der Wiederholung – in eben zeitgenössischer Variante – zu arbeiten. Das ist nun aber Arbeit.
    Der Mensch kann trennen, der eine bestimmt, was geschieht, der andere sorgt für die Organisation der Abwicklung, der dritte führt aus. Man kann sich auf Teilbereiche konzentrieren und das andere ausblenden, nichts neues. Die Hauptschuld liegt immer woanders, und die Suche nach Schuldigen ist wesentlicher Charakterzug unserer Zeit. Die beginnt heutzutage fast schon vor dem Geschehenen.

    Einen schönen Spätwinterabend wünsche ich ins Bembelland.

    (Radiohead – Decks Dark (aus ‚A Moon Shaped Pool‘))

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    • Ich danke Ihnen für Ihren klugen Kommentar.
      Besonders „Wir sollten uns nicht nur fragen, wie dies passieren konnte, sondern bewusst machen, dass es wieder und wieder geschehen kann und somit gilt es sich nicht über die Gnade der späten Geburt an sich zu freuen, sondern dass uns die Gnade der späten Geburt die Möglichkeit eröffnet, aktiv an einer Verhinderung der Wiederholung – in eben zeitgenössischer Variante – zu arbeiten. Das ist nun aber Arbeit“ beeindruckt mich und ich unterschreibe Ihre Zeilen.

      Unter schnellziehenden Wolken mit Blauhimmelfetzen grüsse ich gen Süden.

      (Einstürzende Neubauten – Ende Neu)

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      • Die besagten Zeilen des Herrn Autopict würde ich auch gerne unterschreiben wollen. Und einigen Leuten mit Nachdruck in den Schädel hämmern.
        Höchstwahrscheinlich wäre mir in dem Bau ebenfalls schlecht geworden, daher versuche ich solche Orte möglichst zu meiden. Vielleicht ist man es dort aber auch gewohnt, dass ab und zu jemand auf das feine Parkett kotzt.

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        • Dort gibts nicht die üblichen schlimmen Bilder.
          Aber wenn man sich die Lebensläufe der Teilnehmer durchliest und sich hre Fotos betrachtet, geht ein Wechselbad los.
          Ah, der ist hingerichtet 46 worden, prima.
          Der ist schon 52 gestorben, klasse, der konnte kein Unheil mehr anrichten.
          Oh, der ist als Geschäftsmann / Berater / Bürgermeister oder sonst was uralt geworden – – bjächhh
          Nach Baden Württemberg hats einige gezogen…

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          • Letzteres ist leider viel zu häufig vorgekommen, was man auch daran sieht, dass Greise heutzutage für ihre Verbrechen vor Gericht stehen, obwohl sie dafür eigentlich schon seit über 60 Jahren im Knast sitzen müssten. Wenn ich mit vorstelle, dass Typen wie Mengele noch 30 Jahre und mehr ein feines Leben hatten und nie zur Rechenschaft gezogen wurden… wo ist das Parkett?

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            • genauso isses – – ich habe Jahre in Südamerika gelebt. Lassen wir das Thema lieber, sonst wird mir gleich wieder schlecht.
              Und das nach einem guten Frühstück, 😉

              Das Parkett ist in nämlichen Hause. Fein restauriert inzwischen.

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  6. Können Räume das in ihnen stattgefundene Grauen speichern oder sogar ihren innseitig beschlossenen Frevel? In Bautzen, in der Gedenkstätte vielmehr wurde uns speiübel. Es roch nach Angst und Grausamkeit, ich floh mehr als einmal in den Fisselregen. Und dann die auch von Ihnen beschriebenen Wechselgefühle beim Ansehen mancher Porträts und deren weiterem Bestehen. Von den Bautzner Folterern leben einige immer noch, ich wollte schier Besuche abstatten und denen vor die Füße spucken…

    Danke auch für den Link zur Gedenkstätte, ich habe mir gerade das Protokoll durchgelesen. Nein, eigentlich überflogen, die Pupillen wehrten sich. Nun setze ich mich einen Moment still in meinen Hinterhof.
    Auch still immer die Ihre.

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  7. Was Ihre Eingangsfrage betrifft, bin ich davon überzeugt, auch wenn ich das nicht sichtbar beweisen kann. Aber einem fühlenden Menschen verschliesst sich das nicht. Insofern sind mir Ihre üblen Empfindungen im gelben Elend sofort nachvollziehbar.
    Abendschöne Grüsse aus dem aktiven Bembelland,
    Ihr Herr Ärmel

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