Frühmorgens am Strand (eine Entfernung)

Zurück zu den Wurzeln. Erdiger britischer Blues kommt gut: Groundhogs – Thank Christ for the Bomb (1970)…

Die Gegend hatte mich vollkommen verzaubert und in einen Bann gezogen, der seinen Ursprung in einer Zeit hatte, an die ich mich nicht erinnern konnte. (Patti Smith – M Train, S.179)

Wir fahren aus Łeba (Leba) über die endlos scheinende Allee zurück nach Debki (Eichberg). Leuchtende Rapsfelder zu beiden Seiten. Wir kehren nochmals im Restaurant Avena Zajazd in Goszczyno (Goschen) ein. Schon am Abend zuvor versprach die Karte leckere, traditonelle pommersche Gerichte und der Koch übertraf diesen Eindruck noch.
Bei der Rückkehr in unser Quartier hören wir ein Rauschen. Ein gleichmässiges lautes Rauschen. Fortdauernd. Es erweckt den Eindruck als sei der ganze Ort von einer unsichtbaren Rauschglocke umgeben. Vielleicht die Ostsee denke ich mir, aber es handelt sich um keinen Wellenschlag wie ich ihn von anderen Meeren kenne. Ausserdem fehlt der Sturm dazu.
Am anderen Morgen erwache ich früh. Die Sonne ist bereits aufgegangen. Blauer Himmel. Und das Rauschen. Es ist halb sechs und bis zum Frühstück bleibt Zeit für einen letzten Gang zum Strand.
Als ich mich dem Strand nähere erklärt sich das Rauschen. De Ostsee ist ein sehr flaches und daher meist ruhiges Meer. Die Wellen sind daher durchweg niedrig. Aber anders als anderen Meeren folgen aus diesem Grund die Wellen in sehr kurzen Abständen. Dadurch hört man nicht den Überschlag der einzelnen Wellen sondern ab einer gewissen Wellenhöhe ein unausgesetztes Rauschen.
Zu dieser frühen Stunde sind ausser mir nur Möwen am Strand. Trotz der Lautstärke bemerken sie mich von weitem und erheben sich kreischend in die Luft. Einige hundert Meter weiter lassen sie sich erneut am Strand nieder. Ein schlafender Mann, sein Gesicht ist gerade so erkennbar, bringt mich auf die Idee, die feinen Strukturen am Strand, nahe der Wasserlinie, zu fotografieren. So enferne ich mich immer weiter von Debki. Ich könnte immer weiter gehen im Begleitgesang des Meeres. Fast unvorstellbar, dass sich der Sandstrand der polnischen Küste zwischen Gdansk (Danzig) und Szczecin (Stettin) über eine Länge von über 400 Kilometern erstreckt. Es ist Zeit umzukehren. Die Rückreise steht bevor. Ich sehe an meinen Schuhabdrücken woher ich gekommen bin. Selbst wenn ich ihrer Spur jetzt haargenau folgen könnte, ich wäre nicht mehr derselbe, der diese Abdrücke bewirkt hat. Neue Gefühle fühle ich, neue Gedanken denke ich und neue Bilder habe gesehen.

Ich schreibe ungestüm, eine Studentin an ihrem Schreibtisch, die über ihr Aufsatzheft gebeugt nicht verfasst, was man ihr sagt, sondern nur, was sie will. (Patti Smith – M Train, S.279)

So viele Bilder und Erfahrungen schenkt mir diese Reise. Neue Kenntnisse und Erkenntnisse. Zahlreiche Fragen sind beantwortet, aber mit Goethe zu reden, jede beantwortete Frage bringt zwei neue Fragen hervor. Wie es in anderen Gegenden des Landes aussehen mag. Ob die Menschen dort ebenso einsilbig sind wie im Norden des Landes. Sind die Städte  Katowice (Kattowitz) oder Kraków (Krakau) ebenso beeindruckend wiederaufgebaut worden wie Gdansk (Danzig) oder Sopot (Zoppot). Und natürlich auch die Frage danach, wann eine ausgedehnte Fototour in die Dünenlandschaft möglich sein wird. Dankbarkeit erfüllt mich im Andenken an die Begegnungen mit freundlichen Menschen unterwegs. Die Freude über die schönen Aufenthalte wird vorhalten.

Die Fahrt vom Flughafen Frédéric Chopin in Warszawa (Warschau) nach Lummerland ist eine Tagesreise. In Polen regnet es an diesem Morgen. Wrocław (Breslau), in diesem Jahr die europäische Kulturhauptstadt lasse ich auf der Heimfahrt buchstäblich links der Autobahn liegen. In Görlitz leben Bekannte, da ist die Autobahnausfahrt gesperrt. Niemand soll abfahren, denn dichte bei findet in der Lausitz eine Demonstration gegen die Errichtung eines Kohlekraftwerkes statt. In Leipzig nimmt niemand den Hörer ab. Ebenso ist auch die Autobahnausfahrt 72 auf der A4 wegen Bauarbeiten gesperrt. Dafür fahre ich in einen langwährenden Sonnenuntergang, der mich bei angenehmer Musik bis nach Hause begleitet.

Ich danke allen Besuchern, Lesern und Guggern, die meine Reiseberichte verfolgt haben und wünschte mir, dass für jeden etwas Interessantes zu finden ist, Anregungen für eine Reise vielleicht,  neue Gedanken und Einblicke oder sei es auch nur der Anstoss, liebgewordene Meinungen gelegentlich einmal zu überprüfen.

                                                               (Wie gewohnt: Foto anklicken öffnet die Galerie)

49 Gedanken zu „Frühmorgens am Strand (eine Entfernung)

  1. Lieber Herr Ärmel, beim Lesen,Betrachten Ihrer Reiseerinnerungen kann ich mir die Schwermut und die Sehnsucht ALLER Heimatvertriebenen auf der Welt an ihre verlorenen landschaftlichen ..Paradiese vorstellen. Krieg, Vertreibung, Zerstörung, Entwurzelung und doch immer wieder ein Neubeginn, der Mut der Menschen ist zu bewundern.
    Haben Sie herzlichen Dank dafür, dass Sie uns lesend und schauend mitgenommen haben und Ihr Einfall mit den Einsprengseln aus Patti Smith Buch ist großartig.
    Mit ostseestrandsehnsüchtigen Morgengrüssen Karin

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    • Da fällt mir gerade noch ein wunderschönes YouTube Video ein, das zu dieser besuchten Gegend passt und da ich weiß, dass Sie es nicht so gern haben, wenn ich es direkt poste, es ist eher etwas für Klassikliebhaber, hier der Titel, unter dem es zu finden ist: Chopin Nocturne Opus posthum eingestellt von Alphonse Sauer

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  2. Krakau ist wieder so schön aufgebaut, verehrter Herr Ärmel.

    Sehr danke ich Ihnen für diese Wegbeschreibung.
    In Buchform würde ich sie kaufen, um sie immer wieder hervorholen zu können.

    Nebelfeuchte Grüße

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  3. Ihre Sand- und Strandwelten vermochten auch mich zu verzaubern, sowohl im Wort als auch in Bildern.
    Fast könnte man Fernweh kriegen dabei!
    Liebe Grüsse ins Bembelland,
    Brigitte von Quersatzein

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    • Herzlich Willkommen und recht schönen Dank für Ihr feines Kompliment. Das nehme ich als Ansporn gerne entgegen.
      Nachmittägliche Grüsse aus dem sonnigen Bembelland
      Herr Ärmel

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    • Ich danke Ihnen feinst, liebe Frau Ulli, für Ihren Kommentar. Erotische Noten? Erstaunlich, was in den Fotografien alles zu sehen möglich ist 😉
      Nachmittägliche Grüsse aus dem sonnigen Bembelland
      Herr Ärmel

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    • Ihnen diesen Mangel bereitet zu haben, lieber Herr von Rosen, das betrübt mich ausserordentlich.
      Ich will nur gestehen, dass ich mehrfach die Kamera bereits auf dem Tisch bereit liegen hatte, allein die Gerichte waren dermassen verführerisch lecker….
      Ich habe mich ernährt von knusprig gebratenen Entenhälften, sanft gedämpften Gemüsen (Karotten, Kohl, Rote Beete, Bohnen), frischen Salaten (Rote Beete, Karotten und Weisskohl), Meeres- und Süsswasserfische sowie einheimische Flusskrebse. Mit Flusskrebsen gefüllte Piroggen!!! Sodann von den genialen Apfel- und Käsekuchen und Waffeln mit frischen Erdbeeren und Sahne…
      Keine Weine, dafür hervorragende Biere und Wodka oder Wodka und Wasser….

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  4. der noch feuchte Sand. Kristalle, zerrieben und und hingegeben an das Wasser, den Wind, kaum widerständig. Ein ziehender flacher Schmerz wie von Narben, die vergehn. Dies sind für mich, zusammen mit den Blicken in die Wassertiefe, die schönsten deiner Bilder. Sie sind ohne Zeit und Ort. Ewige Gegenwart.

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    • Mächtige Bilder entwerfen Sie, die gefallen mir sehr gut. Und spornen mich natürlich stark an für Kommendes. Herzlichen Dank dafür und nachmittägliche Grüsse aus dem sonnigen Bembelland
      Herr Ärmel

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  5. Lieber Herr Ärmel, dieses Wasserbild ist pures Glück! Und in den Lüften, da über dem Meer…je genauer ich da hinschaue, um so deutlicher meine ich…eine Graugans unter all den Geflügelten zu erkennen… das wäre ja dann ich…womöglich? Die gesamte Reiseschilderung ist eine horizonterweiternde, wunderbare Arbeit geworden! Herzlichen Dank dafür, daß wir alle davon profitieren durften! Viele liebe Grüsse schickt Ihnen eine lächelnd über den Wassern schwebende Graue!

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    • Fein, dass die Berichte Ihr Bewusstsein dahingehend erweitert haben, dass Sie in der aufgeschreckten Möwenschar sogar die Graugans entdeckt haben 😉
      Fastmitternächtlichlächelnde Grüsse ins Vorgebirge
      Herr Ärmel

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  6. Wollte eigentlich nie dort hin, alte Heimat, ich war noch zu klein um das Land Heimat zu nennen. Aber die Wurzeln rufen. Werde also weiter Polnisch lernen, jetzt gibt es ein Ziel, Wurzeltouristin werde ich sein. Ihnen vielen Dank für den offenen Blick und die „Entklischeeisierung“ der Polen und des Landes, das tat unsagbar gut. Die Fotos waren ebenso eine Augenweide wie die stimmigen Zitate von Patti Smith. Buch wird gekauft. Ihnen eine gute Heimreise ins Bembelland!

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    • Ihr Kommentar, liebe Frau Blumentorte, berührt mich. Wenn Sie durch meine Berichte angeregt worden sind, selbst einmal Ihre Wurzeln oder die Ihrer Vorfahren in Augenschein zu nehmen, dann freut mich das sehr. Ich hoffe, Sie werden in Ihrem feinen Blog Ihrerseits darüber berichten.
      Dass Sie Polnisch lernen, kann ich ohnehin bloss bewundern, ich habe nach zwei Jahren Serbo-kroatisch die Flügel hängen lassen.
      Was das Buch von Patti Smith betrifft: es gefiel mir so gut, dass ich am Ende angekommen, es nochmals von vorne anfing. Ich finde es besser als das Erste, was daran liegen mag, dass sie sich in diesem an Zeiträume erinnert, die ich auch kenne.

      Vielen Dank für Ihren Gutwunsch, ich bin bereits längst wieder sicher im Bembelland angekommen,
      Ihr Herr Ärmel

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  7. Die feine Beschreibung und Ihre enorme Achtsamkeit bei allem, das ist sehr lesenswert!!
    Die Bilder – ach, was sprechen sie aus dem, was ich zwischen den Zeilen las. Sehr sehr schön.
    Mögen Ihnen die Erlebnisse noch lange nachklingen, ich denke es lohnt!

    Beste Grüße aus der Sillbenkemenate,
    Silbia

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  8. „Irgendwie“ sag ich nicht so gerne, doch irgendwie führen mich Ihre Reiseberichte in Richtung östlicher Landschaften und damit auch zu Lyrik von dorten!
    Die Fotos so erdig weltenliebverbunden – und ja, einige der Sandbilder finde ich auch erotisch! Natürlich sieht das nur, wer will, ist klar. Die Frau vom Cafe Weltenall hat eben eine mir leicht ähnelnde Sichtweise, habe ich mir doch meine Blogwelten entsprechend zusammengesucht!
    Gruß von der Alleenliebhaberin

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    • Ihr freundlicher Kommentar gefällt mir. Vielen Dank dafür!
      Es muss an meiner neuen Brille liegen – ich sehe keine erotischen Anteile in den Fotografien. Geben Sie Erotischsehkruse? Ich würde einen buchen.
      Abendschöne Grüsse von der stillen Fähre.

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  9. Sodele, etwas verspätet wollte ich noch meine Begeisterung für diese Fotoserie kundtun, nur in aller Kürze, ich bin echt begeistert. Großartig! Reschpeggt!
    (Era Istrefi – Bonbon (mit Kontrastprogramm im Video)) 😉

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