Mittwochs im August

Was Zufälle betrifft, dazu am Ende mehr. Das Konzert der 2000er Tour ist mir unvergesslich und heute musste es einfach wieder laut werden: Apocalyptica – Cult (Special Edition 2001)…

Ich schaue aus dem Fenster. Ein Mann auf einem uralten Rennrad fährt gemütlich träge um die Ecke. Im grossen Gang langsam tretend. Mann zu gross Rad zu klein. Rad zu gross Mann zu klein. Wann beginnt das Leiden und für wen, wenns partout nicht zusammenpasst?

Erst Anfang August und bereits die ersten Frühherbsttage. Leichter Regen nieselt draussen. Die Morgenübungen im taufeuchten Gras des Gartens sind aufbauend und schärfen den Blick. Mir fällt auf, dass ich in jeder Jahreszeit gut leben kann. Hitze, Regen, Nebel oder Schnee, sie gelten mir gleich. Jede Zeit hat ihr Eigenes und hält Schönheiten für Sehmänner bereit.

Neulich abends habe ich die Dokumentation Im toten Winkel gesehen. Es geht darin um Traudl Junge. Sie wurde als junge Frau die Sekretärin des Braunauer Grössenwahnsinnigen und blieb es bis zum Ende. Sie lebte danach in München und arbeitete als Journalistin. Frau Junge lebte allein und schwieg ihr Leben lang über ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Ihre Gedanken und Reflektionen interessierten niemanden. Ihre Fragen nach ihrer persönlichen Schuld und ihren Verstörungen musste sie demzufolge jahrzehntelang mit sich selbst ausmachen. Aufgrund einer schweren Krankheit wurde sie frühpensioniert.
Heller gelang es, sie im Jahr 2001 zu interviewen. Sie sprach dabei mit schonungsloser Offenheit über sich selbst. Am Tag nach der Uraufführung des Films 2002 starb Traudl Junge im Alter von 82 Jahren. Mich berührte ihr Satz gegen Ende des Films tief: „Ich glaube, ich beginne mir jetzt zu verzeihen.“
Vielleicht beginnt die Liebe dort, wo man sich selbst verzeihen kann. Dann erübrigt es sich, andere Menschen anzuklagen oder unangemessene Forderungen zu erheben.

Der Tag war so verrückt, dass er hier nicht zu beschreiben ist. Wie überhaupt die letzten Wochen. Laut soll die Musik erklingen. Während Apocalyptica ihre Celli malträtieren erreicht mich eine Anfrage, ob ich 2Cellos kennen würde. Kannte ich nicht. Bis dahin jedenfalls. Nach einem Blick auf ihre Webseite und einer Probeanhörung klingelte ich flugs bei meinem Nachbarn. Der kannte das Duo natürlich schon.
Ich glaube schon lange nicht mehr an Zufälle. Ich kann mir manche Geschehnisse nicht erklären. Einfach abwarten. Gelassenheit hilft. Dann tritt vieles ans Tageslicht und lässt sich verstehen.

Gesehen in Hamburg

Gesehen in Hamburg

40 Gedanken zu „Mittwochs im August

  1. Schöner Zufallsrahmen – und immer schräg an den Geländern des Sicherklärenwollens entlang, am Verstehenwollen, man möchte nichts übergebraten bekommen, Warum-Fragen stellen, aber nicht doch. Geschehnisse geschehen. Und wie Sie sagen: Ruhig bleiben hilft.
    Ein Gruß von der Zufallsbekanntschaft, in deren Haus Sie vor …zig Jahren ab und zu weilten

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    • In der Ruhe liegt die Kraft, sprach irgendein meiner altvorderen Menschen immer. Wer mags bloss gewesen sein – jedenfalls nicht die der cholerischen Fraktion.
      Das Haus an der Durchgangsstrasse, ach ja… Schnakengeplagte Sommerwochenenden, Winterwochendenden in ungeheizten Zimmern.
      Wo sind die Zeiten, da wir selbst mit der Fähre übersetzten? Damals hatten wir noch einen grossen Vorrat schneller Antworten, allein es fehlte das Kapitänspatent.
      Herzlicher Morgengruss von zufällig nicht auf der Fähre

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    • Frau Junge war zu keinem Zeitpunkt Parteimitglied. Sie wollte einfach nur aus einem als unglücklich erlebten Zuhause weg und kam durch verwandschaftliche Verhältnisse zu ihrer Arbeitstelle.
      Und vor ihrer späteren Erkenntnis, dass die eigene Jugend als Ausrede und Entschuldigung nicht gilt, ziehe ich den Hut. Da kenne ich ganz andere Vertreter dieser Generation.
      Ich musste erstmal nachschauen, wer Frau Lara ist. Und Herr Schneider? Meinen Sie den Helge? 😉
      Schöne Grüsse,
      Herr Ärmel

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  2. Wieder ein schöner Beitrag, inklusive formidabler Musik. Jede Jahreszeit hat ihr Schönes und Reizvolles. Allerdings wäre etwas mehr fühlbarer Sommer im wilden (Nord)Westen Deutschlands schon fein. Der Juli war hierzulande trüb und kühl. Den Vorherbst rieche ich bevor ich seine Zeichen erkenne. Das Grün wird tiefer und ermüdet. Spinnennetze glitzern im kühlen Morgentau auf Gräsern. Wiesen sind von ersten abgefallenen Baumblättern gesprenkelt. Mir fehlt dieses Jahr die Sonne. Doch wie viel erst mag Traudl Junge gefehlt haben, die zu den Introvertierten dieser Welt zählte und am Ende etwas sagte, über das ich genauso denke: Liebe braucht überhaupt Verzeihen, sich selbst, doch auch immer wieder den anderen, weil es so wichtig ist, versöhnt zu sein mit den Dingen die kommen und nicht zu ändern sind. Wie der kommende Spätsommer ohne dass ein Hochsommer hierzulande fühlbar war.

    Liebe Morgengrüße und Dank von der Fee

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  3. Eine leise Melancholie zieht durch Ihre Zeilen und weht mich herbstlicher an, als es der kalte Regenwind tut. Allerdings: ich mag die Zeit, die jetzt anbricht unheimlich gern, mit der langsameren Gangart und den kühlen Abenden, der Zuwendung zu schweren Gedanken und Gesprächen, die eher nach Tee als nach Biergartenbrause duften. Mit dem Zufall haben Sie sicher recht. Wenngleich keiner weiß warum. 🙂 Herzliche Grüße erneut aus Regenlandien. Frau Blumentorte.

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    • Das sehe ich wahrscheinlich ähnlich. Ich lebe gut in grosser Hitze und dem Leben im Freien. Aber geniesse dann auch den langsamen Wechsel zu mehr Innerlichkeit. Den ersten Abendtee bei früher einbrechender Dunkelheit zum Beispiel.
      Lachen musste ich bei Ihrer Zustimmung zum Gedanken des Zufall und dem Übergang zum nächsten Satz. Den habe ich natürlich auch auf mich bezogen 😉
      Herzliche Wochenendgrüsse ins Regenland,
      Herr Ämel

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  4. Das mit den „Zufällen“ erstaunt mich auch immer wieder. Schön, das es diese Zufälle giibt, wie auch, diesen Beitrag hier von ihnen.
    Ich wünsche ihnen ein friedvolles, sonniges Wochenende, Herr Ärmel,
    Liebe Grüße aus Leipzig, Menachem

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    • Lieber Menachem, Sie beschenken mich reich mit Ihren guten Wünschen.
      Auch ich sende Ihnen meine besten Wünsche fürs Wochenende von Bücherstadt zu Bücherstadt,
      Herr Ärmel

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  5. Was Sprache doch vermag! Was bei anderen wie eine Plattitüde klänge (sich selbst verzeihen etc), hat bei Ihnen Weisheitswert. Herzliche Grüße aus einem durchaus noch nicht herbstlichen griechischen Hochsommer mit Badefreuden und Zikadenlärm.

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    • Weisheit? Lang ist die Kunst und kurz das Leben. Ich wäre schon froh, ich könnte mehr als als einen Stehblues tanzen 😉
      Herzliche Grüsse aus dem heute wieder einmal sonnigen Bembeland,
      Herr Ärmel

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      • Ein Satz mit Weisheitswert macht noch keinen Weisen, da haben Sie Recht und machen einen weiteren Schritt auf dem langen Weg, auf dem wir alle wandern, nolens, volens, der eine schneller, der andere im Stolperschritt. 🙂
        Liebe Grüße vom golden überglänzten Abendmeer.

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        • Ach, das Meer . . . 1979 war ich auf Ios. Da gab es eine Discothek auf einem Felsen. Zum Sonneruntergang versammelten sich alle möglichen Leute dort. Schauten in den Sonnenuntergang und lauschten der sehr laut dargebotenen klassischen Musik dazu. Mit dreifachen Ringen um die Pupillen versteht sich 😉

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  6. Zufall ist der Versuch der Bewertung einer Aneinanderreihung von Ereignissen. Da diese sich gewissermaßen zusammenfügen müssen, wundert es manchmal dass es passt und man spricht von Schicksal. Passt es gar nicht zusammen, so spricht man von großem Zufall. Und dann gibt es noch die dritte Variante mit den Zwischenumwegen, denen wir nicht immer folgen können, die machen uns ratlos und veranlassen uns das Wort Zufall aus unserem Sprachgebrauch zu streichen. Aber wir wissen das ja immer erst danach. Wie in der Schulzeit, irgendwann konnten wir alle 2 und 2 zusammenzählen, manche eben erst nach dem Test, manche üben noch. Diese Erkenntnis nennt sich dann Lebenserfahrung und führt zu solch kraftvollen Aussagen wie zitiert. Eine späte Einsicht, falls von Nöten, wird freundlicher quittiert als eine zu frühe. Dass das Ableben kurz danach erfolgte mag Schicksal oder Zufall gewesen sein, lag vielleicht aber auch am Alter und der fehlenden Gesundheit. Auf jeden Fall musste die bekehrte Person nicht zu lange hofiert werden. Wäre es nicht schön man wäre gegenüber sich und anderen schon früher verzeihungsbereit und hätte noch längere Zeiträume in friedvoller Koexistenz als alleine jahrelang vor sich hin zu gammeln? Sicherlich passt nicht alles auf alle Fälle, aber es gehört nicht so viel dazu zu erkennen dass 2 und 2 fast 5 ist, und dies vor dem Test.
    Über laute Musik brauchen wir nicht zu diskutieren, die klappt immer, fast…
    (Kaffeevollautomat, Kopierer, Schritte, Stimmen, Mikrowelle, fahrendes Auto)

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    • Ja ja ja und dreimal Ja! Ich danke Ihnen für Ihren ausführlichen Kommentar und unterschreibe alles Geschriebene. Ihre Erweiterungen, die ich mir versagt habe, sind trefflich formuliert.
      Dass 2 und 2 fast 5 sind, kann ein wichtiger Wegweiser fürs Leben sein. Einen Knaller haben Sie damit gelandet.
      Würde ich Morgenfrüh keinen Blog mehr schreiben wollen, ich würde noch einen letzten Beitrag anfügen, nur um auf Ihren Kommentar zu warten!

      Laute Musik?
      (Bobby Sanabria conducting the Mahhattan School of Music Afro-Cuban Jazz Orchestra – Kenya Revisited Live (2009)

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      • Also Herr Ärmel, das ist mal ein kommentierender Kommentar, da musste ich mich fast umdrehen und nach der versteckten Kamera suchen. 😉 Ich bin aber dann spontan zu einer abendlichen Runde gestartet und habe mir im freudigen Konsumrausch eine neue Pfanne gekauft. Damit die Bratkartoffeln wieder was werden.
        Eigentlich wollte ich ja Fotos am Abend machen, da gefällt mir das Licht über den Feldern so sehr, aber nun ist es eben die besagte Pfanne… Zufall, Schicksal, Appetit, wer weiß.
        Ihr Hinweis auf den letzten Beitrag würde mein Interesse wecken, welchen Inhalt dieser hätte. Allgemeiner Natur, auf das Ende bezogener Natur und in der Folge, wie könnte mein letzter Kommentar werden, wenn ich wüsste, es wäre der der letzte Beitrag. Hm.
        (Radiohead – 2+2=5 (The Lukewarm))

        P.S.: ja ich wüsste es, da ich meine schlichte Rede eher spontan gestalte und manchmal im Nachgang doch diverse Ungereimtheiten entdecke, das aber nicht zu ändern gedenke, wären meine letzten kommentierenden Worte sicherlich ein Bezug auf ein Klangstück aus der Schallkiste aus den autopict’schen Archiven.
        Ja doch. So wärs. Sie können also gespannt sein. Aber lassen Sie sich Zeit, die Suche nach etwas Passendem könnte dauern, bzw. die Entscheidung.

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        • Eine gute Pfanne ist unverzichtbar. Nützlicher Konsum und somit durch und durch gerechtfertigt.
          Ich wünsche Ihnen guten Appetit und Genuss bei der Pfanneneinweihung.

          Der Gedanke an das Ende von Herrn Ärmels Wirken in der Blogwelt flog mich seit letztem Jahr immer wieder einmal an.
          Siebenhundertfünfzig Beiträge seit 2011. Die lästigen Querelen hinter den Linien, das Geschwätz und die Eitelkeit. Fast hunderttausend Klicks in den zwei Jahren bei der Wortpresse. Einige hundert Blogverfolger, deren Blogs mir die verbliebenen Haare gelegentlich zu Berge stehen lassen.
          Emotionale Gründe, rationale Gründe.Warum mache ich das alles? Fragen. Für welche Menschen und wie viel davon frisst die eigene Eitelkeit? Ist das Potential ausgereizt? Vielleicht wird anderes wichtiger im Leben und fordert Zeit.

          Spontan beantworte ich Ihre Frage:Glaube, Liebe, Hoffnung. In diesem Kontext wäre mein letzter Beitrag geschrieben. Kein theatralischer Abgang mit bauchpinselnden Loberwartungen. Leise verschwinden und verduften. Das Licht wird ausgeschaltet und Ärmels Blog liegt im Dämmer. So, wie man sich den eigenen Tod wünscht. Ist noch Zeit bis dahin.
          Ihr letzter Kommentar, er wäre mir der begleitende Schwanengesang…

          (Udo Lindenberg – Stark wie zwei / 2008)

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  7. Es gibt auch ein Buch über Frau Junge , im List Verlag erschienen. Die 2Cellos sind oft bei mir zu finden, aber meist mit klassischen Stücken.
    Heute werden auch keine Sekretärinnen der Vorstandsvorsitzenden für die Taten ihrer Chefs in Gruppenhaft genommen, die müssen sich sogar vertraglich ausschweigen. Nur mal so erwähnt. Mit Wünschen für ein hoffentlich mal wieder sonniges Wochenende, Karin

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    • Das Wochenende ist bereits wieder sonnig geworden, noch bevor ich Ihnen für den Hinweis auf das Buch über Traudl Junge übermitteln konnte.
      Dankend schöne Grüsse,
      Herr Ärmel

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  8. Lieber Herr Ärmel,

    manche Gelassenheit überträgt sich seltsamerweise durch ein offengehaltenes Loch im Knie, das ist dann die Stelle wo kurz der Schmetterling seine Grüße hinterläßt. Wir können nicht gänzlichst uns nackernd halten, wollen das auch nicht. Bevor wir die Seifenblase erkennen, hat der Schmetterling sie schon platzend zerküßt.

    Ich sende Ihnen lieblichste Abendgrüße und verbleibe kurzverpaust als die Ihre Frau Knobloch, entschieden zugeneigt.

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    • Nackte Seifenblase im Knie vom Schmetterling lochplatzend zerküsst… Gestatten Sie mir weitere Lesungen Ihres mir kostbar scheinenden Kommentars. Allein, es muss am Alter liegen, könnten Sie mir Ihre Worte nochmals buchstabieren? Der Sinn, ach der Sinn, liebe Sanne, die Sonne muss schuld dran sein.
      Ach was, alles gut, meine höchstwertgeschätzte Frau Knobloch. Sie können manchmal aber auch sowas von den Schalk im Nacken haben.
      Herrlich!
      Sonnenherrlichste Grüsse sende ich Ihnen, Ihr Herr Ärmel (bedenklich weit zugeneigt und nebenbei den Wildtanzdress anlegend)

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      • Ich darf Ihnen schalllachend flugs noch meine weiße Wade beugend andingen, um beim Wildtanzdresswechsel behilflich zu sein?
        So wie ich mich gänzlichst schalknackend beuge ob Ihrer blockadenlösenden Worte…

        Schall-knackend sowie schalk-nackend zugeneigt, sowiesoundstets die Ihre.

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        • Wie wo was welche weissen Waden wollen Werrn Wärmel wankelbeinig wirbelnd wellenanschlagend wallend werlköniglich wirrwuscheln?
          Wie wird mir?
          Ähem!
          Meine liebe Frau Knobloch, ich darf Sie doch ebenso höflich wie inständig ersuchen, sich noch eine klitzekleine Weile zu mässigen.
          Noch liegt der Riemen nicht auf dem Tangodiesel. Darf ich Sie zur ersten Gavotte zum Tanz bitten oder ziehen Sie einen Squaredance vor?
          Ihr Herr Ärmel (nach dieser Wummerei zum Schminkspiegel zurückkehrend, selbstredend zugeneigt – aber wie)

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