Wegbereitungen

Eine meiner Ewigkeitsballaden. A Louse is not a Home. Zu hören auf:
Peter Hammill – The silent Corner and the empty Stage (1974)…

Lebenskonzepte speisen sich aus vielen verschiedenen Ursprüngen. Die Herkunftsfamilie, menschliche Begegnungen und immer wieder besondere Ereignisse. Diese Melange prägt den Menschen über viele Jahre und schafft ihm Mittel und Werkzeuge, um ab einem gewissen Lebenszeitpunkt sein Leben weitgehend selbstbestimmt zu steuern und zu leben. Und für das eigene Denken, Fühlen und Handeln die Verantwortung zu übernehmen.

Meine Herkunftsfamilie entstammt jener Generation, die von einem ehemaligen Kanzler der Deutschen behaftet worden ist mit dem Etikett der Gnade der späten Geburt. Mir fallen die Pubertierenden und Heranwachsenden in jenen Jahren des Krieges ein. Die Jungs durchweg sozialisiert in der Jugend, benannt nach ihrem wahnsinnigen Führer. Die Mädels hatten ihren eigenen Verein. Verballhornt in Bubi drück mich (BdM). Kinder weitgehend beraubt ihrer Kindheit, Jugendliche beraubt ihrer Jugend. Verbogen, verdreht und belogen. Wie anders soll ich es mir erklären, dass damals Fünfzehnjährige Brücken und Kirchen in die Luft gesprengt haben ohne Bedauern. Auch notfalls nicht davor zurückschreckten, einen Menschen, der den Irrsinn nicht weiter mitmachen oder bloss zur Vernunft aufrufen wollte, hinzurichten in den letzten Tagen. Im Angesicht des Untergangs.
Es gab auch Ausnahmen. Da ist mir ein ganz besonderer Mensch bekannt, der zum Flakhelfer gezwungen worden ist. Unter seinen pflichttreuen Kameraden war durch seinen Mut und seine Taten jene bewundernswürdige Ausnahme, die die Regel nur bestätigt. Er hat den Krieg überlebt und arbeitete danach viele Jahre als anerkannter Arzt.

Aufgewachsen im zunehmend industrialisierten südlichen Bembelland. In einem alten Ortskern. Die Kirche gegenüber. Bauernhöfe rundum. Die Landwirte mit kleineren Höfen verkauften und verpachteten im Zug der Flurbereinigung nach und nach. Sie kamen als ungelernte Arbeiter in den umliegenden Fabriken unter. Noch war der Faselstall in Betrieb. Auf dem alten Rathaus wurde zuverlässig jedes Jahr das Storchennest besiedelt.
Im Herbst kam der Holzschneider mit dem Lanz Bulldog. Auf dem Traktor war hinten die Bandsäge montiert. Er schnitt den Bauern das Holz für den Winter. Die groben Stücke wurden auf dem Knittelkarren nach Hause geschafft und dort ordentlich in feine Scheite gehackt. Erscholl der Ruf „Ahl Eise, ahle Öfe“ oder gar „Zigeuner!“, dann wurde der Riegel des Hoftores vorgelegt. In unserem Hof erinnere ich mich an den alten Holztisch. In der Kirschen- oder Pflaumenzeit sassen Frauen drumherum. Vor ihnen angeschraubt an der Tischplatte die handbetriebenen Maschinchen zum Entkernen der jeweiligen Früchte. Samstags brachten Bauernfrauen ansehnliche quadratische Bleche in die Backstube. Die Kuchen darauf wurden in der letzten Hitze des mächtigen Backofens ausgebacken. In der Waschküche eines Hofes stand der grosse Kupferkessel. Von unten befeuert wurde darin das Schweinefutter gekocht, zu Zeiten auch die Wäsche gewaschen. Zur Pflaumenernte versammelten sich die Frauen, um in wechselnden Schichten den Latwersch, das Pflaumenmus, im Kupferkessel einzukochen. Im Spätjahr wurde geschlachtet. Wir Kinder waren dabei. Welcher Junge dem Metzger am besten zur Hand ging mit kleinen Diensten, dem schenkte er die Schweinsaugen. Es war ein bescheidenes Vergnügen, den kreischenden Mädchen die Augen nachzuwerfen. Psychologen traten ihren Dienst später wegen ganz anderer nicht zu vergessender Ereignisse an. So viele Geschichten schwimmen im Brunnen der Erinnerung.

Was ich als Kleinstärmel tief internalisiert haben muss, war das Wort artig. Artig sein. Und Sauberkeit. Auf alten Photographien sehe ich ein männliches Kind. Im Anzug oder verkleidet in bayerischer Maskerade. Die zweiteiligen, kratzigen Wollstrümpfe und das Tirolerhütchen sind auf keiner Photographie zu sehen. Meisthin mit einem Lächeln. Damals noch. Dass ich mich, der Familienerinnerung nach, im Alter von zwei Jahren geweigert habe, mich von Frauen anfassen zu lassen, es war vielleicht Instinkt. Ein Jahr später nahm mich eine Verwandte mit zum Einkaufen. Während ihres Schwätzchens mit der Inhaberin des Kolonialwarenladens nahm ich aus der Bonbonniere zwei kleine Kaugummis. Ohne zu fragen. Zuhause wurde auch ich nicht gefragt. Ohne weitere Erklärungen schritt man zur Tat. Mein drittes Lebensjahr, ich habe es überlebt. Und auch die weiteren kraftvollen Versuche, einen kleinen Menschen abzurichten und zu dressieren in Wort und Tat. Die Gnade der späten Geburt machte nicht wenige Eltern zu gnadenlosen Dompteuren. Unmenschlich und selbstgerecht.

Welche Wege wird ein Mensch beschreiten mit diesem Erbe seiner Herkunft. Das Leid der anderen Kinder in den Nachbarschaften war da kaum ein Trost. In der vierten Klasse überbrachte die Lehrerin die Nachricht. Ein Klassenkamerad hatte sich aufgehängt.
Viele Eltern blieben ohne Schulabschlüsse. Einige wenige, vorwiegend Männer, hatten ein Notabitur. Frauen betrieben häufig ohne Ausbildung die Familiengründung. Kleinbürgerliches Umfeld mit den üblichen Auffälligkeiten. Einblidung statt Ausbildung. Der Traum von der Reise nach Italien und dem jährlichen Mehr (sic!). Zur Arbeit noch immer mit dem Rad, aber nächstes Jahr mit dem NSU Quickly. Und als mit der hochspezialisierten, feinmechanischen deutschen Wertarbeit für einen weit entfernten Korea-Krieg das deutsche Wirtschaftswunder endlich begann, durfte man von einer 200er Zündapp träumen. Und endlich neue Möbel. Und so weiter. Fast jeder Mensch meines Alters, mit dem ich über diese Themen sprechen kann, kennt die gleichen geschusterten Legenden. Familiengeschichten gestrickt und gehäkelt.

Die Frage bleibt. Welche Wege wird ein Mensch beschreiten mit diesem Erbe seiner Herkunft? In meinem Fall war der Rucksack voll mit einem ganzen Arsenal an Verhaltensauffälligkeiten. Dies wiederum bedeutete Strafen, etliche Schulwechsel und immer wieder wechselnde Bezugsgruppen. Straucheln ohne zu fallen ist eine artistische Kunst. Artig und artistisch liegen nicht nur phonetisch dicht beeinander. Wer neben der Kümmernis und Qual (und die Lehrer und Lehrerinnen sollen bei dieser Gelegenheit genau erinnert werden) auch die kleinen Freuden erlebt und verinnerlicht hat, wer auch Gutherzigkeit, Milde und Humor erfahren durfte, der hat einiges Brauchbare für weite Horizonte späterhin.

Rettungen boten immer wieder die kleinen Fluchten. Anfänglich die verwirrend schönen Fieberträume während der jährlich zweimalig wiederkehrenden Halsentzündungen. Im Winter einmal ausgebüxt in Hausschuhen. Aufgetaucht und wiedergefunden in der Volksschule inmitten einer Meute lachender Kinder. Auch die geheimen Gänge in die Kirche gegenüber. Darin die Gemälde an den Wänden und der Decke bewundern und sich in Phantasien verlieren. Heute sind die Kirchen hier im Umkreis durchweg verschlossen. Ob Kindern ein gleichwertiger Ersatz geboten wird?
Dann die folgenschwere Begegnung mit der Literatur. Dieser Hang wurde im Ärmelhaus befeuert, ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken. Schliesslich las man selbst, war von Anfang an Kunde bei einem Lesering. Als man bemerkte, dass der eigene Spross ganz anderes als Ganghofer und Rosegger las und mit ganz anderen Auswirkungen war es zu spät. Die Dressur war misslungen. Man hatte sich eine Laus ins Haus gesetzt, die einem in allem und jedem widersprach und dabei kaltschnäuzig die Unzulänglichkeiten und Fehlleistungen nachwies. Und vor allem die Lebenslügen. Überlegenheitsgefühle in Gummiwänden. Nur allzu rasch verpuffte die Wirkung. Wer austeilen will muss auch einstecken können. Und wer schon als kleines Kind gelernt hat zu überleben, der kann viel einstecken.

Menschen ausserhalb der Familie waren auf meinen Wegen Überlebensretter und eine unschätzbare Hilfe gleichermassen. In anderen Zusammenhängen hier im Blog habe ich sie als meine menschlichen Engel beschrieben. Diese Menschen waren richtungsweisend. Sie haben mich vor Schlimmerem bewahrt. Ihre Impulse waren förderlich. Manche ihrer Sätze oder Ansichten haben mich verstört oder empört. Und sich dennoch Jahre später als richtig und berechtigt erwiesen. Mein Dank ihnen gegenüber währt lebenslänglich. Davon demnächst mehr.

66 Gedanken zu „Wegbereitungen

  1. Lieber Herr Ärmel, nun sitze ich auf Ihrer Erinnerungsschaukel, ich nicke, ich gucke traurig, ich schmunzel ob all der Schliche, die „wir“ uns ausdachten, um dann doch ein Stück Freiheit zu erobern und Kirchenvätern, Eltern und LehrerInnen eine lange Nase zu drehen, klar, hinter ihren Rücken, blieb nur noch Gott, der alles sah, nebenan sass der Nikolaus und schreib alles in sein dickes goldenes Buch, obwohl der Nikolaus vermenschlicht wurde und Gott die Prüfungen nicht bestand, blieben nochs ehr lange allessehende Augen, die wollten einfach nicht verschwinden, das war echte Arbeit!!!
    Ich freue mich auf mehr-
    herzliche Grüsse vom Schneeberg
    Ulli

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    • Das Schönste am Älterwerden ist ja, dass man Abstand halten kann. Jedenfalls, wenn man gelernt hat, dass die Vergangenheit zum erinnern da ist und nicht, um darin leben zu wollen. Denn das ist meiner Erfahrung nach die Voraussetzung, um sich weitgehend autonom als Persönlichkeit entwickeln und verwirklichen zu können. Andernfalls macht man höchstwahrscheinlich seine Eltern, Lehrer oder Menschen, die einem mal verlassen haben für alles verantwortlich und gibt ihnen die (vermeintliche) Schuld, wofür man selbst die Verantwortung nicht übernehmen will oder kann..
      Grauhimmlischer, jedoch hyazinthenduftender Nachmittagsgruss,
      Herr Ärmel

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  2. Das ist eine dichte Erzählung, lieber Herr Ärmel. Wieviel in einem Leben an Erfahrungen liegen kann, denke ich wieder einmal. Gut und mehr als das, dass es die menschlichen Engel gab und dass Sie Ihre Nischen fanden. Wenn ich die ersten beiden Bilder betrachte, dann denke ich, der Ärmeljunge wirkt, als wohne eine gute Portion Eigensinn in ihm, die vielleicht stärker war als die Forderung nach artig sein.
    Mit all dem im Gepäck gehen wir unseren Weg, der der unsere ist.

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    • Ob da Eigensinn aus den Photographien herausscheint, vermag ich nicht zu sagen. Wenn dem so gewesen sein sollte, dann hätten einige meiner frühen menschlichen Engel das Verdienst, diesen Eigensinn zum Erblühen gebracht zu haben. Denn als Ärmelkind, wäre es nicht ratsam gewesen, Eigensinn zu beweisen. Dem hätte die Erziehungsmaxime des sofortigen Willensbruches entgegengestanden.
      Grauhimmlischer, jedoch hyazinthenduftender Nachmittagsgruss,
      Herr Ärmel

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  3. Was ist ein „Faselstall“ – und warum hat der Oppa mit der Schultüte Kinderhände?
    Nachvollziehbar, spannend, mit dem Durchblick aufgeschrieben, der im Nachhinein über einen kommt – nicht wahr!?
    Geschrieben, als säße der Schreiber an ruhigem, unaufhaltsamem Feuer und wäre trotzdem reichlich aufgeregt. Verständlich!
    Gruß von der, die heute früh einen lebendigen Marienkäfer fand, hoffnungsvoll (auch bezüglich der weiteren Schilderungen hier, menschliche Engel betreffend)

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    • Wo viele faseln, ists das reinste Gefasel.
      Sie lassen sich unbekannte Begriffe gerne erklären statt selbst nachzugugge, gell, Frau Wildgans.
      Im Faselstall wurden in früheren Zeiten die männlichen Zuchttiere gehalten. Der Ortseber, der Dorfbulle oder ein guter Beschäler.

      Ihre zweite Frage hingegen beunruhigt mich nicht wenig. Nie hätte ich angenommen, dass Sie schon am hellen Nachmittag Kommentare unter Alkoholeinfluss schreiben. (Eierlikör oder Weihnbrandbohnen, das ist jetzt meine Frage)
      Grauhimmlischer, jedoch hyazinthenduftender Nachmittagsgruss

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      • Schönen Dank für die agile Antwort! Blogartikel lese ich nicht um Lexika oder Suchmaschinen zu durchblättern, stelle stattdessen dem geschätzten Autoren Fang-oder sonstige Fragen.
        Alkohol trinke ich, wenn überhaupt, nur in heißen Sommernächten. Sie wollen doch nicht behaupten, dass das auf dem Foto mit der Schultüte ein Sechsjähriger ist?
        Gruß aus der Rheinhessengegend

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        • Nein, dahingehend haben Sie natürlich Recht. Der Knabe auf dem Photo ist noch nicht sechs Jahre alt. Das war er auch nicht, als er eingeschult worden ist.
          Ihn aber deshalb gleich als Obba zu bezeichnen… nanana…

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          • Mitternächtliche Verzeihung bitte, lieber Herr Ärmel, es gab ein Missverständnis, sah ich doch die beiden unteren Fotos nur hier in der Collage mit abgeschnittenen Köpfen – eben auf einem anderen Gerät kamen die Fotos in Folge – und sodann erblickte ich das Kind in vermeintlich großväterlicher Kleidung!
            Wünsche wohlige Nacht!

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  4. Lieber Herr Ärmel,

    irgendwann habe ich meinen Eltern ihre Fehler bei der Erziehung verziehen. Und auch mir, diese, bei meinen eigenen Kindern gemachten nachgesehen.

    Es lebt sich besser so.
    Hier gibts weder Schneeglöckchen noch Marienkäfer zur Zeit…

    Darauf hoffende Grüße

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    • Ihre Worte kann ich sehr gut unterschreiben. Wer weder auf seine eigene erlebte Vergangenheit entschuldigend sehen kann, noch sich selbst milde betrachtet, der wird auf Dauer wahrscheinlich nicht wenige Lebensprobleme haben.
      Grauhimmlischer, jedoch hyazinthenduftender Nachmittagsgruss,
      Herr Ärmel

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  5. Mein Beileid. Bin erstaunt – und heilfroh – dass sich bis auf die Äußerlichkeiten(Outfit) da fast nichts mit den eigenen Erlebnissen decken will. Habe gerade Sabine Bodes „Kriegsenkel“ gelesen. 18 Schicksale meiner Generation (nur eben in der Westvariante). Hier und da ein Splitterchen, was auch auf mich bzw. meine Eltern passt, aber diese Häufung an Verkorxung musste ich dann doch nicht durchleiden. Uff.
    Aber mir kommt es auch im Bekanntenkreis der Klassenkameraden bei weitem nicht so schlimm vor. wie bei „euch da drüben“. Wenn nun aber die Erzeuger alle durch die gleiche Kindheitshölle mussten, was hat die östlichen so stark diszipliniert? Oder lags an den fehlenden Existenzängsten ab Erreichen der frühen 60er in der Planwirtschaft? An der unnötig gewordenen Bigotterie im kirchenfeindlichen Staat? Rekordbeter (siehe gleichnamiger Breloer-Film) brauchte niemand zu werden. Auch nicht „wegen der Leute“. Pastorenkinder hatten häuslich bedeutend mehr auszuhalten und fielen deshalb immer als besonders extrem-intelligent oder -kauzig auf. Siehe Merkel.
    Diese generationskonfliktischen Dispute gabs auf bedeutend kleinerer Flamme, als sich das heute in Westveröffentlichungen liest.
    Irgendwie sehr sehr seltsam, dass der Unterschied in dieser Hinsicht zwischen den Deutschlands so groß ist. Ich grüble noch drüber.

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    • Dieser hochinteressante Kommentar verdient geradezu eine längere Ausführung. Denn viele Fragen wirft er auf und viele spontane Antworten sprudeln hervor. Hier ist es kaum mit schnellen Aussagen getan.
      Grundsätzlich (und sehr pauschal!) denke ich, dass die ehemalige Deutsche Republik einfach viel moderner als die BRD gewesen ist. Abtreibungsrecht, soziale Sicherung für geschiedene Frauen, Kinderkrippen etc. mögen Faktoren sein. Darüberhinaus hat das Anspruchsdenken sicherlich anders funktioniert und die soziale Kontrolle war eine andere.
      Was die Erziehungsmassnahmen im Osten betraf, denke ich, dass man auch dort unterscheiden muss zwischen Kindern aus einem Akademikerhaushalt und den anderen. Keines der Kinder aus einem Akademikerhaushalt in meinem Umfeld ist auch nur annähernd so derbe erzogen worden, wie das bei uns anderen der Fall gewesen ist. Selbstständige Handwerker und Kaufleute eingechlossen.

      Ich weiss nicht, wie das Wissen um die Werkhöfe bei den Jugendlichen Eindruck gamcht hat.
      Und ausserdem war man in den Nachbarschaften mehr aufeinander angewiesen als im Westen.

      Das, was viele Gleichaltrige meiner Generation seinerzeit Freiheit nannten, war in gewissem Sinne Grenzenlosigkeit. Eine reiche Auswahl an Drogen gab es in der ehemaligen DDR ebensowenig wie manch andere Konumartikel hierzulande. Sodann gab es Beschränkungen, die im Osten kollektiv wirkten während sie im Westen selektionierten. Das Kreditwesen der BRD war anders aufgebaut. Mit der Warenwirtschaft waren andere Anliegen verbunden.

      Die staatlichen Organe, allen voran die Volkspolizei, griffen anders durch als die westlichen Polizeien das taten.
      Das grundsätzliche Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der ehemaligen DDR liess die Bürger anders mit bestimmten Verhaltensweisen umgehen, als das in der BRD der Fall gewesen ist.

      Und was mirpersönlich beim Bedenken deines Kommentars wieder einmal auf- und eingefallen ist: Die Jugendlichen im Osten waren durchweg besser gebildet als die im Westen. Das Bildungssyste im Osten war meines Wissens nach auch strenger.

      In der Hoffnung, nun nicht zweihundert Missverständnisse zu erzeugen mit dieser recht spontanen Reaktion auf deinen Kommentar.

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      • Nö Missverständnisse keine, glaub ich wenigstens: Deine Argumente enthalten ebenso wie das S.Bode-Buch so Sprenkel bei denen sich zwar zustimmend nicken lässt; aber bei näherer Betrachtung isses das dann auch wieder nicht: Bildungsstand besser z.B. stimmt bei einigen, sicher nicht bei allen – das Lehrplankonzept war zwar „ideologisch verseucht“ aber logischer mit mehr Festigungsphasen und fachübergreifenden Nebeneffekten. Wirkt bei vielen, sicher nicht bei allen – Dödel gabs hier auch massenweise. Besserer Bildungsstand kam auch von der Zweigleisigkeit zwischen Privat- und Schulmeinung, an die man sich früh gewöhnt hat und zwischen denen man auf Knopfdruck switchte. Mehr Neugier durch mehr Denkverbote, die es zu unterlaufen galt – aber DER Punkt ist ganz sicher nicht Mehrheitsfähig.
        Außerdem erklärts nicht den ausgebliebenen Massensadismus der Elterngeneration gegenüber den Kindern im Vergleich zu „euren“ Westschilderungen.

        Meine POS-Klasse schwankte zwischen 35 und 29 Schülern. 5-6 davon Vollassi (Domviertel), da kann man sich vorstellen, dass Prügel an der Tagesordnung war. Würden die lesen, würden sie die Westgreul heute bestätigen können, jedoch in Verbindung mit dem Suff der Eltern, nicht in Verbindung mit gewollter „Wohlanständigkeit“ die eingeprügelt werden sollte.
        Die ca.15 Altstadtkids durften sich elend lange herumtreiben, ob sie rauchen oder nicht, interessierte keinen, phantasielose Gammelfreiheit. Aber keine Drogengefahr, da hast du recht.
        Der Rest war durchwachsen. Kleinbürgerliches Angestelltenmilieu, ein Knast-Schließer-Sohn und einer stammte aus schwer katholischen Verhältnissen mit Tischgebet und allen Schikanen… und sein Vater arbeitete als Erzieher im Jugendwerkhof. Passt „super“ ins Klischee der „roten Schinder“ wie es heute landauf landab kolportiert wird, nicht wahr? Tja und bei den meisten war ich auch mal zu Hause und die meisten hab ich bei Klassentreffen wieder getroffen. Mehrfach. Ich hab deren Eltern soweit sie mir begegneten gewiss nicht tiefenanalysiert. Sicher konnte man mich mit nem lockeren Spruch leicht blenden. Aber: Schlecht von den Eltern redete niemand. Das in westdeutschen Jugendfilmen so weit verbreitete Ausreißer-Syndrom gabs auch nicht. Kenne nicht mal in den Parallelklassen Fälle. Ich selber bin mal ausgerissen. Mit 5 oder 6 Jahren. Im Schlafanzug. Aus der Kinderklinik. Ich wollte nach Hause. Kam aber nur bis an die Haustür der Klinik… Blöde Nachtschwester! Ich hätte den Heimweg gekannt!

        Einige pflegen heute aufopferungsvoll. Einige verkündeten melancholisch vom Ableben der Altvorderen: „Nun hat sie/er’s hinter sich.“
        Niemand legt selbst zu später Stunde alkoholisiert los, dass er sich mit Eltern überworfen hätte…
        Der erste Ernüchterungsschock war jene Erzählung, von Eckes Tod. Was mag ich noch alle übersehen haben?
        Wenn ich jetzt mal 5 Domkinder abziehe, hab ich noch ca 25 Leute, von denen vielleicht wiederuim 5 in dem Ruf standen strenge Eltern erwischt zu haben. Ohrfeigen oder Kopfnüsse bekamen wir alle mal, diese 5 bekamen auch „ne richtige Tracht“, wie es hieß.
        Bleiben 20 glückliche Kindheiten.

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        • Es mögen in der Tat viele Faktoren mitwirken, die hier in den Kommentaren nicht annähernd geklärt werden können.
          Aber zurück zu dem – wie du ihn zu benennen beliebst – im Osten angeblich „ausgebliebenen Massensadismus der Elterngeneration“. Wie kannst du dir da so sicher sein? Nur, weil du ihn selbst in deiner Umgebung nicht erlebt hast? Vielleicht hat sich kaum ein grösseres Kind oder ein Jugendlicher getraut, seine familiäre Situation öffentlich zu machen. Das kollektive Schweigen aus Vorsicht könnte da manches im Verborgenen gehalten haben.
          Nach der Wende hat man viele Menschen aus der untergegangenen DDR daran erkannt, dass sie im unpersönlichen Pronomen man unterwegs gewesen sind. Wir oder gar ich kamen da recht selten vor. Und bei älteren Menschen, die in der DDR sozialisiert worden sind, kann man diesen Gebrauch noch heute vielfach hören. Und Unterschiede zwischen der Land- und der Stadbevölkerung gibts da auch noch.

          Aber wie bereits angemerkt, das ist ein ebenso interessantes wie umfangreiches Thema.

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          • Jau, wie ich schon schrieb: Tiefenanalysiert hab ich nicht. Ich kann durchaus getäuscht worden sein…. Aber siehe eben oben.
            Zum Gebrauch des Wörtchens „man“ – das wurde eher nicht aus irgendeiner Art von Unsicherheit gebraucht, sondern heischte größere Allgemeingültigkeit ein. Ähnlich einem basta oder ishaltso. Wir waren ja auf „absolute Wahrheiten“ geeicht.
            Die andere Variante der Auslegung des „man“- Gebrauchs ist Wurschtigkeit des Gesagten: Man kann das so sehen (is mir aber Banane, hab keinen Bock, mich festzulegen)…
            Darin Unsicherheiten sehen zu wollen ist ein ähnliches Missverständnis, wie das Ding mit der Larmoyanz.
            Die im Westen so verpönte Ossi-Larmoyanz z.B. kam zustande, weil Ossis naiv offen alles mögliche unverblümt an-und aussprachen, was der gehobene Wessi gern hinter nichtssagenden rhetorischen Floskeln versteckt, egal ob er dabei nun „man“ verwendet oder nicht. Diese Direktheit, Offenheit, (Selbstschutzlose Naivität) war vielen von euch peinlich – unter anderm auch deshalb, weil ihr nicht auf die Reihe bekamt, warum Ossis im Stasi-Staat nicht viel mehr herumdrucksten, wie eigentlichvon euch erwartet wurde.

            Da gabs so einige unterhaltsam-lehrreiche Fortbildungen mit Westkollegen, wo jeder die fremde Spezies erkunden konnte.
            Im Fremdwortgebrauch wart ihr uns über – oder seit es noch, in meiner Altersgruppe. Bei den Youngsters geht das Fokussieren auf die Essentials im Selfoptimizing grenzüberschreitend voran. Wenn da bloß nicht so viel Communication-crap entstünde!
            Dafür sehen wir(Alten) die DDR-Deja vue’s schneller, wenn da z.B.gewisse Parteien ihren Chef-Grinser auswechseln.

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            • Ich rudere zurück. Ich bin drauf reingefallen und habe deinen Satz „Bin erstaunt – und heilfroh – dass sich bis auf die Äußerlichkeiten(Outfit) da fast nichts mit den eigenen Erlebnissen decken will“, nicht ernst genug genommen. Besonders das einschränkende Attribut der eigenen Erlebnisse.
              Da mich die Ausgangsfrage noch immer beschäftigt, werde ich mich an wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema halten. Horizontweitungen bringen meist mehr Licht.
              Heinz-Elmar Tenorth: Geschichte der Erziehung. Juventa, Weinheim & München. 2000. Der Autor stellt darin auch Erkenntnisse über die Bildung und Erziehung in zwei deutschen Staaten zwischen 1945 und 1990 vor. Da die Alltagsgeschichte der DDR bei den Historikern der jüngsten Geschichte ziemlich gut erforscht ist, werden sich weitere Untersuchungen finden lassen.

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              • Mit dieser Sorte Untersuchungen hat der ostdeutsche Zeitzeuge so seine Probleme. Ich sag nur Töpfchentheorie…
                Es wird eben alles sehr nivelliert zusammengafasst. Das ist das Dilemma aller gesellschaftswissenschaft. Aber DDR ist nun mal nicht gleich DDR. Da gibt es große Unterschiede zwischen besonders ungeschickten 50ern und moderaten frühen 70ern zum Beispiel und – was noch seltener berücksichtigt wird: Regional tickten die Uhren ebenfalls extrem unterschiedlich. In Jena scheint extrem rigider bestraft worden zu sein als in Naumburg oder Leipzig. Die Humbold-Uni Ostberlin war verschrieener als die KMU in Leipzig. Wismar und Greifwald schienen freier als Rostock und Stralsund zu sein usw… Je nach dem, woher man kommt – dieses Bild schleppt man mit sich. Ich hatte mit Naumburg einfach richtig Glück.

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                • Eine seriöse wissenschaftliche Arbeit wird derlei Unterschiede, wie du sie anführst, wohl berücksichtigen und benennen.
                  Es gibt zweifelsohne eine Deutungsmacht, aber darum Erkenntnisse der Gesellschaftswissenschaft oder auch der Geschichtswissenschaft pauschal der Nivellierung zu bezichtigen, ist mir schlichtweg zu platt geknüppelt.

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                • …kenne da mehrere GeWi-Doktoren der FU (West-)Berlin, die mir in den 90ern beibrachten, dass nichts über IHR DDR-Bild geht und über IHRE Auffassung von Sozialismus, da nur sie Marx wirklich gelesen hatten usw. Sie waren auch mehrfach mit Tagesschein im Osten und können sich ein Urteil erlauben… blablabla…die da vor ihnen saßen, waren alles Ossis, die ein oder zweimal versuchten, ihnen erlebten angewandten Marxismus zu erklären. Vergeblich. Also machten die Ossis das, was sie gewöhnt waren – labern lassen, Achsel zucken, in der Prüfung das herbeten, was verlangt wird, bombastische Prüfungsergebnisse einfahren und hinter der geschlossenen Türe dann den Prüfern den Vogel zeigen… DDR-Deja vue Nr.1.

                  Wollte nur andeuten, dass ich dich mit Geschichten und Leseerlebnissen zutexten könnte, die das Gegenteil zu deinem Kommentar ergeben. Wolltes aber andererseits auch dabei belassen, das ich eingesehen habe, dass das eigentlich nichts bringt. Jeder schleppt halt an seiner Sozialisation. Das ist wie mit dem Männer-und Frauen-Thema endlos.

                  Thierse hat das mal schön auf den Punkt gebracht: „Die Entwertung gelebter DDR-Biografien durch den Westen …“ vergrätzte Leute meines Alters und darüber eben erheblich. „Wir sollten uns unsere Leben erzählen….“ (Setzt allerdings voraus, dass der andere auch zuhört. Die vielen Übertreibungs-PINGS aus der einen Richtung führen eben zu den entsprechenden Gegen- PONGs der anderen Richtung.

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  6. Vielen Dank, Herr Ärmel! Ich lese sehr gerne, wie ein Mensch zu dem geworden ist, der er ist…vor allem, wenn es so wunderbar geschrieben ist, wie dieser Text! Ich grüße Sie herzlich!

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    • Liebe Frau Graugans, ich danke Ihnen für Ihr Feinstkompliment. Und ja, es gibt (für mich) kaum etwas erstaunlicheres as die Lebenswege, die sich Menschen komponieren.
      Nicht minder herzliche tulpenkwietschende Grüsse,
      Herr Ärmel

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    • „Komponierte Lebenswege“, sagen Sie, lieber Herr Ärmel. Ja, wunderbar haben Sie den Ihren komponiert. Da ist das schmerzende Motiv der unterdrückenden Macht der Erzieher, damit verwoben das wärmende Motiv der intakten Dorfgemeinschaft mit all ihren Düften und sinnenbetörenden Tätigkeiten, dann das zarte Motiv der im Lesen gefundenen Eigenwelt und schließlich der befreiende Akkord: es gab Engel, die mich führten. Sehr genossen habe ich diese Musik im grau-u entschlossenen Mittagslicht Athens. Gerda

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      • Ich danke Ihnen für Ihren Kommentar, den ich glattweg als Kompliment nehme.
        Verstehe ich Sie richtig, dass Ihnen das Stück von Peter Hammill zugesagt hat?
        Ihnen einen schönen Abend,
        Herr Ärmel

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  7. Werter Herr Ärmel, eine tolle Nachtlektüre, vielen Dank hierfür.
    Es ist spannend – gerade für mich, die ihre eigene Kindheit gerade aufarbeiten muss – wie andere Kindheiten waren. Und was dennoch – oder gerade WEGEN – aus den Menschen wurde. Die Fotos sind herzallerliebt, ich bin mir aber nicht sicher, ob ich Sie damit am Bücherschrank in Bockenheim erkennen würde. Hut UND Schultüte – das wär’s! 🙂

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    • Liebe Frau Lila,, wenn Sie mir erlauben, möchte ich Ihnen meine Erkenntnis mitteilen. Es kommt weniger darauf an, seine Kindheit aufzuarbeiten, als die momentanen Lebensstrategien zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Kindheit ist vorbei, was soll daran aufzuarbeiten sein? Das klingt so, als wolle jemand jetzt die Strasse von vor zwei Wochen kehren. Man kann nur den Dreck, der jetzt daliegt wegkehren. Das andere hat inzwischen der Wind weggeblasen. Das sehen Therapeuten naturgemäss schon um des eigenen Geldes wegen ganz anders.
      Nein, mit einer Schultüte würden Sie mich nicht erkennen. Davon abgesehen bezweifle ich, ob ich es von Lummerland bis in die Bembelstadt mit einer Schültüte und lustigem Hüchen überhaupt schaffen würde 🙂

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  8. Herr Ärmel, ich hätte Sie jünger geschätzt. Ja, das waren andere Zeiten. Umso interessanter wie relativ schnell sich Dinge auch zum Guten entwickeln können. Bereits eine Generation weiter war vieles besser

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    • Herr Guinness, wie schön, von Ihnen etwas lesen zu dürfen. Ob eine Generation vieles so viel besser war? – na, ich weiss nicht.
      Wir mussten halt tun, was tun mussten und die Generation nach uns musste das tun, was sie tun durfte. Die Form der Diskussionen hat sich jedoch geändert. Und ob es besser ist, dass Eltern ihre Kinder als Verhandlungspartner auf die Elternebene ziehen, das bezweifle ich tagtäglich auf den Strassen und in Geschäften jeder x-beliebigen Stadt.
      Ihnen einen schönen Abend,
      Herr Ärmel

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  9. Hochinteressant, was hier erzählt wird. Der Begriff Bürgertum ist ja sehr dehnbar. Für mich bedeutet Bürgertum für ein Kind gebildete Eltern zu haben, ein humanistisches Umfeld, Förderung der individuellen Begabungen und gute Chancen es im Leben zu dem zu bringen, was und wie man werden möchte. Für Sie bedeutet es ganz Anderes. Das sind auch recht schwammige Begriffe: „Bürgertum“ , „Unterschicht“ „Mittelschicht“
    Ganz schrecklich finde ich, dass Sie in der vierten Klasse einen Mitschüler hatten, der sich umgebracht hat. Sowas prägt. Ich erinnere mich noch heute an einen Freund meines Bruders , der sich mit 20 Jahren erschossen hat. Das hat mich sehr erschüttert obwohl ich ihn kaum gekannt hatte.
    Das Kind auf den Fotos kommt mir vor wie aus einer anderen Welt. Ein sechsjähriger in Anzug und Krawatte, der größere Ärmel mit der Bibel in der Hand sieht ziemlich „gezähmt“ aus, aber ich nehme an das täuscht 🙂
    Was am Anfang eines Lebensweges gut oder schlecht war, kann man eigentlich gar nicht sagen. Viele Dinge beeinflussen in eine ganz andere Richtung als von den Eltern beabsichtigt. Ich finde man kann eigentlich nur im Rückblick analysieren was wozu geführt hat. Wenn sich das überhaupt analysieren lässt.
    Schöne Grüße auch an die Herrin der Kwietsch-Tulpen 🙂

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    • Als soziale Gruppierung unterteilt sich für mich das Bürgertum in das Grossbürgertum und das Kleinbürgertum. Das Grossbürgertum muss nicht unbedingt für das alltägliche Brot arbeiten und der Konsum und die Verbreitung von Kultur gehört zum Leben wie das Atmen. Ene gewisse Liberalität und Grosszügigkeit umrankt das ganze.
      Das Kleinbürgertum, das ist der ganze Rest, die Masse; die Herde, über die bestimmt wird. Das sind diejenigen, die ganz gross fühlen, wenn sie Kultur konsumieren und meinen, nun würden sie „dazu gehören“. Das sind die, für die jene Hamsterräder gemacht sind, in denen sie willig ihre Runden und Überstunden drehen. Die immer zu wenig haben und zukünftig etwas mehr ersehnen.

      Ich habe erkannt, dass mit allem was ich versucht habe, ich nie ein Grossbürger werden würde. Irgendetwas fehlt immer.
      Ich gehöre zu den Kleinbürgern, die aus ihrem Hamsterrad wollen. Ich habe kapiert, dass ich selbst es bin, der Rad antreibt.
      Und deshalb habe ich mich für andere Verhaltendswesen entschieden. Wenigstens das kann ich tun. Fülle durch Reduktion ist meine Bremse im Hamsterrad.

      Apropos Grüsse: Meine Vase als Herbergsgeberin hat auf die Grussüberbringung nicht reagiert, leider 🙂

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      • *schallend lach* die Vase reagiert nicht. Der ist wirklich gut, Herr Ärmel 🙂
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        Ihre Theorie des ewigen Gehörens zu der Gruppe in die man hineingeboren wurde, finde ich ein bisschen deprimierend. Aber womöglich haben Sie recht und es ist tatsächlich so, immer mit Ausnahmen natürlich ….
        Äußerst originell ist auf jeden Fall die Fülle durch Reduktion als Bremse des Hamsterrades. Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob der Zweck des Hamsterradbetriebs nur materieller Gewinn ist oder auch sozialer Aufstieg (was immer das genau ist oder sein soll) ?

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        • Der soziale Aufstieg (der näher zu definieren wäre) wird am einfachsten im Materiellen sichtbar. Insofern ist die Bremse des Hamsterrads eine abenteuerliche Sache, die manche Überraschung bereithält. Meiner Erfahrung nach jedenfalls.. Und mein Hamsterrad dreht sich noch immer. Wenn auch langsamer. Endlich… ~~~

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            • Notbremsungen wird es sicherlich geben. Schwere Schicksalsschläge sind mir denkbar.
              Aber ich selbst würde keine Notbremse ziehen. Ich denke dabei zwangsläufig an die Menschen, die meine Reste auffinden würden…
              Nein nein, schön sachte abbremsen, wie im richtigen Leben auch.

              Das Hamsterrad ist eine prima Metapher finde ich. Da kann man schon grössere Schüler prima dazu schreiben lassen. Interessant, was denen so alles dazu einfällt. Überhaupt habe ich von Kindergartenkindern und Schülern sehr viel gelernt.

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  10. Tja, die Lebenslinien. Wer wären wir, wenn wir nicht die wären die wir sind. Wären wir ebenso diejenigen die wir sind, oder wären wir diejenigen, die wir nicht sein möchten, weil die so sind, wie für uns die Unerreichbarkeit aussieht? In den Seeleneimer werfe ich noch ‚brav‘, ‚anständig‘ und ‚ordentlich‘, und dann schwimmen da noch die Nachbarn rum, die personifizierten Damoklesschwerter der erwischten Unbändigkeit. Wenn einem die zugeteilte Erziehung anderen gegenüber unangenehm wird, dann ist manches nicht gerade gelaufen. Aber vielleicht formt uns das auch. Man kann als Minderjähriger da ausbrechen, man kann aber auch im Sumpf der Unauffälligkeit seinen eigenen Weg suchen. Nur, das wird man nicht mehr los. Über allem stand die ‚Unauffälligkeit‘, ohne diesen Begriff zu verwenden. Man bleibt wie man gemacht wurde. Und zwar in der Zeit nach den neun Monaten. Etwa vier Sätze zurück: q.e.d. Und so vagabundieren wir in fremdgemachten angeeigneten Hüllen durch die Welt, bis wir sie wieder verlassen. Und sind ständig auf der Suche. Und wenn wir Glück haben, begegnen wir Menschen, die uns zum Aufwachen bringen, wenn auch nur kurz, jedoch bringt die Summe der Wachphasen manches ans Tageslicht. Es führt uns in Phasen des Zorns, der Zerrissenheit und der Vergebung, denn das Leben hat auch immer gute Seiten, wir haben in der Hand, wie wir es in die Waagschale werfen. Bis wir dann verstehen. Eine Melange aus Überfrachtung und Überforderung, gepaart mit Traditionen aus dem Gen-Pool. Wenn wir soweit sind, und wenn wir etwas ändern möchten, müssen wir den Fokus auf uns und das Jetzt lenken, nicht auf das Gewesene, das verwest und lässt stolpern. Es bildet vielleicht das Bokeh. Soviel hierzu.
    Ich hatte über die ‚Kriegsenkel‘ (danke für den reminder @ Bludgy) auch ein wenig gelesen, ein interessantes Thema, dem ich mich irgendwann einmal annähern möchte. Wenn ich groß bin. Aber das werde ich nie. Akzeptiert.
    Nebenbei, die Fotos im Kontext mit Ihrem eindringlichen Text zeigen einen interessanten Aspekt der Fotografie: man sieht nicht was auf der Rückseite steht.
    Und Ihre Musik ist vorköstlich, Herr Ärmel, wirklich vorköstlich. Würden wir andere Musik hören, wenn alles anders gewesen wäre?
    Ich wünsche einen wohlgediegenen Abend mit ebenso köstlichen Gedanken. Seien Sie herzlich gegrüßt auf dieser Etappe Ihres Roadmovies, und die Ihnen positiv zugeneigten Menschen ebenfalls.
    So. Das wars.
    (I Like Trains – A Divorce before Marriage)

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    • „Tja, die Lebenslinien. Wer wären wir, wenn wir nicht die wären die wir sind.“
      Ihre Einleitungfrage, lieber Herr Autopict, ist – wie auch Ihr gesamter Kommentar – wie immer ein Kracher der Extraklasse.
      Unsere musikalischen Helden sind meines Erachtens gute Beispiele für Menschen, die alles andere als unauffällig seon wollten.
      Andererseits erhebt sich bei Jugendlichen mit einem gewissen devianten Verhalten, damals wie heute, die Frage, ob die vielleicht nur auffallen wollen, um auf ihre jeweiligen Nöte hinzuweisen.

      „…den Fokus auf uns und das Jetzt lenken, nicht auf das Gewesene, das verwest und lässt stolpern“, das ist der hilfreichste Wegweiser, dem man folgen kann. Ich bin überzeugt, nur in dieser Richtung ist Er-lösung von schwer lastenden Vergangenheiten möglich. Und nur dort lassen sich Horizonte weiten zur Entfaltung eigener Fähigkeiten. Dafür muss man natürlich auch die Verantwortung übernehmen. Und sich von Ausreden und Fremdschuldzuweisungen fernhalten. Eigenverantwortung ist der Zündschlüssel für rasante Abenteuerausflüge.

      Vorköstliche Musik? Eine zuvor nie vernommene Zuschreibung. Famos!
      (Beatsteaks – Milk & Honey)

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  11. Ach du jeh,
    da möchte ich nur all zu gern wissen, wie mich dereinst meine Kinder betrachten werden, wenn sie in mein Alter kommen werden, über das ich schon jetzt jammern könnte, wenn es mir danach wäre.
    Ich denke immer, dass sie mir den goldenen Löffel in den Mund steckten. Ich habe die Traumatisierungen meines Vaters nur ganz zusammenhangslos erfahren, aus Briefen, und das war echt hart, ausgebombt.
    Da hatte ich so richtig Glück. Hineingeboren in die friedlichem Jahre. Und es ging voran. Zügig, Und es war einigermassen überschaubar.
    Und mit den Beatles und Zappa kamen allerseeligst die musikalischen Prägungen herangeklungen. Was war das für eine geile Zeit!
    Hätte es das gegeben, wenn wir nicht das ganze Wechselbad erlebt hätten? Wären wir nicht entschlummert im Meer eines konfliktlosen Wohlbefindens ?
    Egal, jetzt in’s Hier & Jetzt. Gestern waren auch die guten & alten Zeiten besser, sagte mal so ähnlich der Karl Valentin.

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    • ZU deiner Eingangsfrage empfehle ich von Peter Hammill das Lied Autumn.
      Glück gehabt zu haben, bedeutet aber auch, die Schattenseiten nicht zu übersehen. Die Mitte ist fast alles im Leben.
      Von Politischen rede ich dabei nicht 😉

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  12. Sehr umfangreich – und nachvollziehbar. Gerade das In-einem-Dorf-groß-werden.
    Bei uns zuhause wurde nicht gelesen. Bei meinem ersten Buch als Knirps schwindelte ich: Ich hatte es nicht gelesen! Musste allerdings gleich danach Mutter beichten, daß ich gelogen hatte. Offenbar war es strikt verpönt, etwas vorzutäuschen, zu lügen, „unwahr“ zu sein.
    Diese Unfähigkeit/Einschränkung blieb haften: Es gelingt mir heute nur mit Mühe, zu lügen.

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    • Man kann auf zweierlei Wegen etwas lernen. Entweder man lässt es und erfindet Umwege oder man überwindet es. Ich habe als Kind gelogen, dass sich die Balken gebogen haben. Aus Angst, aus Unsicherheit – es gab viele Gründe.
      Ich habs irgendwann gelassen als ich gelernt hatte, dass es sich ohne Lügen einfacher lebt. Schwierig war dabei, mich selbst nicht mehr zu belügen, damit ist man ja meist am grosszügisten mit sich selbst.

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  13. Ich denke Gerhard, dass es gut ist, das es immer unterschiedliche Sichtweisen gibt. Wie sonst könnte Vielfalt entstehen?

    Intuitiv hätte ich jetzt gesagt, na, da haben deine Eltern doch etwas richtig gemacht! Trotz einer wahrscheinlichen Westerziehung, oder gerade wegen einer Osterziehung? Jedenfalls, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich mit der Unfähigkeit/Einschränkung des nur mit Mühe lügen könnens, sich sehr gut und ruhig schlafen lässt. Einige unnötig vergangene Nächte in meinem Leben, in in welchem mir dieses sanfte Ruhekissen des nachts fehlte.

    Ich, der in ähnlich der hier beschriebenen Lebenszeit groß geworden bin, würde es aus meiner Sicht nicht als „verpönt“ interpretieren. Ich denke schon dass meine Eltern wussten, welch`große Last mit Lügen und Lebenslügen aufgeladen werden und wie sie manchmal ein ganzes Leben lang nicht abzuschütteln sind. Nicht immer kann sich eine Lüge, “ das haben wir alle nicht gewusst“ in eine erfundene eigene Wahrheit verkleiden.

    Gelesen habe ich viel in jungen Jahren. Meterweise! Aber nur Karl May und – Comics!

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    • Ganz so sehe ich es nicht. Vielleicht sprechen wir auch von verschiedenen Dingen hier.
      Ich denke, mein Mich-schwer-durchsetzen können fusst auch in dieser Kindheitserfahrung. Sich sein Recht verschaffen, um etwas kämpfen.

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  14. Selten habe ich so einen intensiven Beitrag zu dem Thema „Talkin´`bout my Generation“ oder „Wie wurden, was wir sind“ gelesen. Dafür mein herzliches Dankerschön an Sie, erter Herr Ärmel.

    Und was könnte ich da ergänzen,

    z.B. die Frage, ob es tatsächlich so war, wenn Sie schreiben, dass in Akademikerhaushalten nicht so „derbe“ erzogen wurden. Nun ich weiss nicht recht. Mein Vater war heimatvertriebener Studiendirektor und ich kann dennoch auf eine Erziehung zurückblieken, die nicht nur, aber auch und z.T. sehr heftig die Progelstrafe als probates Mittel der Erziehung einbezog. Bis eines Tages mein großer Bruder zurückschlug … dann war Ruhe …Ich kazerte damals als 12jähriger verängstigt in der Ecke und traute meinen Augen kaum …

    Interessant fand ich auch, dass sich viele Eindrücke, Empfindungen Ihrerseits mit den meinen decken … obwohl wir aus unterschiedlichen „Verhältnissen“ kommen … kann es sein, dass eine jeweilgie Zeitepoche als „kollektive Prägungen“ beinhaltet … die über Bildungsschichten hinausgeht ?

    Wobei mich dann doch die Beiträge von Bludgeon sehr interessiert haben … scheinbar noch so ein „Ost-West-Gefälle“ … das mir bisher noch gar nicht so bewußt war. Von daher auch für diese Beiträge meines herzliches Dankeschön.

    Und dann, man kann es drehen und wenden wie man will … unsere Generation … hatte dann ein Pfund in der Hand, das an Wucht nicht zu überbieten war … ja und damit meine ich die kulturellen Veränderungen in den 60er Jahren (ja, ja, die Beatmusik …. ), der dann fast zeitgleich die politischen Veränderungen folgten (ja, ja, die 68er Generation, deren Rädelsführer, deren Literaten) ….

    Befreiung von der „schwarzen Pädagogik“ war nun möglich … wenngleich wohl ein jeder sich mit seinen Narben herumschlagen musste).

    Da fällt mir ein. Als ich so 18 Jahre alt war … erschien mir das Leben so tragisch, dass ich ernsthaft mit einem Suizid liebäugelte … Gott sei´s getrommelt und gepfiffen, dass ich mich an ein kostenloses Beratungsangebot einer ökumensichen Beratungsstelle gewandt habe … Die schrieben dann meinen Eltern einen sehr persönlichen Brief und baten sie, mir eine Psychotherapie zu ermöglichen.

    Nun denn, dieser Brief wurde dann zur allgemeinen Belustigung im Kreise der Familie (also vor meinen Brüdern vorgelesen) …. schenkelklopfendes Gelächter war die Folge, während ich mich heulend in mein Zimmer verzog … und dunkel erinnere ich mich noch an meinen schwachen Zorn, der mir zuflüsterte „Ihr kriegt mich nicht klein“ … und so kam´s dass ich zwei Jahre später auszog (und das als jüngster) … um dann in einer „wilden Ehe“ mein Glück versuchte (aber das ist dann wieder na ganz andere Geschichte).

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    • Ich danke Ihnen, lieber Herr Riffmaster, für Ihren ausführlichen Kommentar.
      Es ist ja kein Geheimnis, dass es schichtenübergreifende pädagogische Massnahmen im Umgang mit den eigenen Kindern gegeben hat. Und daraus resultierende kollektive Prägungen sicherlich auch. Aber es ist bei alledem zu bedenken, dass wir als die damaligen Kinder eben nur unsere eigene kleine Welt wahrgenommen haben. Insofern sind die heutigen Aussagen mit Vorsicht zu verwenden und sie keine absoluten Wahrheiten dar.
      Interessanter ist doch, was wir aus unseren Erfahrungen gemacht und wie wir unsere Leben gestaltet haben.

      Einiges, von dem Sie schreiben, kommt mir bekannt vor. Anderes weckt Erinnerungen.So habe ich als vielleicht Achtjähriger bei einer Pfadfinderfreizeit drei Ansichtskarten an verschiedene Empfänger mit gleichem Text geschrieben. Die hat der Gruppenleiter dann vor allen Kindern in der Jugendherberge mit einem entsprechenden Kommentar vorgelesen. Ein johlendes, hunderstimmiges Gelächter war die Folge. So erwirbt man sich Stehvermögen.

      Was nun den zitierten Unterschied zwischen DDR und BRD angeht, da bin ich noch am recherchieren und möchte mir noch kein abschliessendes Urteil erlauben. Aber was ich bereits vermutete, verdichtet sich. So gross waren die Unterschiede in der Erziehung, zumindest was unsere Generation betrifft, eben doch nicht. Aber das ist ein anderes Thema.

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