Steinernes Herz und wuchernde Assoziationen

Als Heranwachsender konnte ich nur wenig mit Soul anfangen. Zwei, drei Nummern fand ich mitreissend, aber meine Musiken kamen aus anderen Studios. Aufgrund des grossartigen Berichtes bei arte.tv über das Stax Label in Memphis läuft derzeit: The Complete Stax Volt Singles 1959-1968 (9 CDs / 1991)…

Wir diskutierten wie fast an jedem Samstag vormittags um Gott und die Welt. Er war einer meiner wegweisenden Lehrer ins Leben. Er liess mir den Raum, mich mit ihm über ganz unterschiedliche Themen auseinanderzusetzen. Er korrigierte meine juvenil rozigen Ansichten nur mässig. Wenn ich mich gar zu sehr in einen unausgegorenen Gedanken hineinmanövriert hatte, konterte er meist mit einem ziemlich provokanten Satz. Manche dieser Sätze begleiten mich noch heute.
Als lausiger Schüler kam ich zu ihm ins Haus. Meine Eltern hofften wohl, er würde es schaffen und mir dabei helfen, meine miserablen schulischen Leistungen zu verbessern. Er war Naturwissenschaftler und hatte sich einen Namen gemacht auf seinem Fachgebiet. Daneben war er sozial engagiert und hielt schon Ende der 1950er Jahre Vorträge, zum Beispiel über „Die geheimen Verführer“ von Vance Packard. Das war ein Werk, das sich kritisch mit den Methoden der Werbeindustrie und der daraus folgenden Beeinflussung des Unterbewusstseins der Konsumenten auseinandersetzte.

Aufgrund seiner Kenntnisse und Interessen bemerkte er wohl ziemlich rasch, dass es mir nicht an intellektueller Stärke mangelte. Hier lag ein deviantes Verhalten vor, verursacht durch die häuslichen Verhältnisse, durch Aufzucht und Erziehung. Er mag daraus den Schluss gezogen haben, dass Nachhilfe in meinem Fall nichts nütze und sprach also mit mir. Keine therapeutischen Gespräche und doch bot er mir die beste Therapie. Gab mir beispielsweise Lesehinweise. So begeisterte und motivierte er mich für Literatur, Philosophie, Psychologie und Geschichte.
Das meiste freilich zu früh für den grossen Buben, der ich damals noch war. Aber immerhin wurden auf diese Weise wertvolle Grundsteine gelegt. Er begleitete mehrere meiner Schulwechsel und war durch unsere spätnachmittäglichen Gespräche zu einer wichtigen Bezugsperson für mich geworden.

Ich wurde älter und wir trafen uns mittlerweile samstagsvormittags in der Küche seiner Familie. Wir tranken Bier und er kochte. Und er konnte kochen. Hausmannskost. Viel grundlegendes über das Kochen habe ich dabei gelernt. Irgendwann in dieser Zeit hatte er mir das Du angeboten. Es war eine Zeit, als Kinder und Jugendliche die Erwachsenen noch per Sie ansprachen.
An einem dieser Samstage wies er mich anlässlich der Veröffentlichung von Zettels Traum auf Arno Schmidt hin. Erzählte mir schier Unglaubliches von diesem Autor. Der Haken sass im Bewusstsein und ich kaufte mir gleich ein Taschenbuch dieses Autors. Unlesbar! Eine unmögliche Orthographie, die Interpunktion wie Kraut und Rüben. Aber irgendwie doch originell. Und vor allem witzig.

Kurze Zeit später las ich „Das steinerne Herz“ von Schmidt. Die Fabel ist, wie meist bei Schmidt, recht schlicht gestrickt. Die Kunst hingegen bestand im Aufbau des Textes und der eigenwilligen Schreibweise. Zwei Geschichten in einer. Oder vielleicht doch drei.
Naja, meinte er, der Schmidt hat ja schon allein beim Titel einige Anspielungen gemacht.
Ich verstand nicht.
Also, erstens ist Das steinerne Herz eine Geschichte von E.T.A. Hoffmann und dann ist da die Assoziation zum Kalten Herz von Wilhelm Hauff.
Ich muss die Augen ziemlich weit aufgerissen haben.
So ist das schon bei den Titeln von Arno Schmidt. Wir haben uns letzthin doch über Zettels Traum unterhalten. Zettel ist der Weber im Sommernachtraum von William Shakespeare. Allerdings in der Übersetzung von Wieland, die fast nicht zu finden ist.
So werden kleine Haken ausgelegt, die einen Heranwachsenden neugierig werden lassen.

Das Steinerne Herz ist der erste deutsche Nachkriegsroman, in dem sowohl die BRD als auch die DDR eine Rolle spielen. Und beide Staaten kriegen auch gleich ihr Fett weg. In der kunstvoll verschlungenen Handlung geht es neben anderem um zwei Liebesbeziehungen. Die Haupthandlung des Romans spielt in Ahlden. Und da Schmidt sich selbst einmal als Polyhistor bezeichnete, ist es nicht verwunderlich, dass er eine historische Liebesbeziehung in seinen Roman auch gleich noch mit einbaute.

Es handelte sich um die aussereheliche Beziehung zwischen Sophie Dorothea Herzogin von Braunschweig und Lüneburg und Philipp Christoph Graf von Königsmarck. Sophie Dorothea wurde gegen ihren Willen mit ihrem Cousin Herzog Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg verheiratet. Herzog Georg wurde der spätere engliche König Georg I. Das Paar entfremdete sich schnell und Sophie und Königsmarck begannen eine Liason. Diese wurde entdeckt. Georg Ludwig verlangte die Scheidung und einen erheblichen Teil des Vermögens seiner Frau. Königsmarck verschwand spurlos und Sophie Dorothea wurde 1694 auf Schloss Ahlden gefangen gesetzt. Sie lebte unter Hausarrest bis zu ihrem Tod 1726. Von Königsmarck, General Augusts des Starken, wurden niemals sterbliche Überreste gefunden und Sophie Dorothea ging als Sophie von Ahlden in die Geschichte ein.

Mich begeisterten die Texte Schmidts zunehmend. Ich las seine frühen Romane und seine literaturgeschichtlichen Dialoge. Wieder einmal klackten samstagsvormittags die Schnappverschlüsse der Bierflaschen und ich entwickelte eine Theorie, die ich wahrscheinlich kühn fand, aber mein Gegenüber blieb kühl zurückhaltend.
Sei vorsichtig mit dem assoziativen Denken. Da lassen sich schöne Gedankennetze flechten und Texte konstruieren. Aber im richtigen Leben braucht man die Kräfte von Imagination, Inspiration und Intuition.
Er erklärte mir geduldig und beantwortete meine Fragen ausführlich.

Ich habe im Lauf meines Lebens seine damaligen Ausführungen sehr oft wertvoll anwenden können. Dennoch ist es hin und wieder eine Lust, sich auf das assoziative Trampolin der Möglichkeiten zu begeben.

Vor vielleicht zwei Jahren entdeckte auf einem Blog, der inzwischen für die Öffentlichkeit gesperrt ist, das Lied einer englischen Folk-Rock-Band. In deren Repertoire findet sich ein Lied, das sich auffallend von ihrem sonstigen Kompositionen abhebt. Bei jenem Blogbesuch fiel mir jener Song wieder ein. Bis dahin hatte ich nicht auf den Text geachtet. Beim erneuten Hören stellte ich jedoch schnell fest, dass ich eigentlich fast garnichts verstand.
Ich suchte mir den Text und konnte es kaum glauben.
In dem Text geht um den Einzug von Herzog Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg als King George I. nach England. Ich fand den Text so toll, dass ich ihn übersetzen wollte. Fand auch rasch heraus, dass es sich um eines der bitterbösesten Spottlieder seiner Zeit handelte. Das Singen des Textes als auch das blosse instrumentale Spielen war bei leibpeinlichen Strafen verboten.
Inzwischen gibt es auch eine deutsche Wikidemikerseite zu diesem Lied. Darauf auch eine deutsche Übelsätzung des schottischen Textes. Zu einer treffenderen Übertragung des Textes mag ich mich nun nicht mehr entschliessen.

Um jedoch den Lesern meines Blogs das Vergnügen des Textes eines schönen alten Spottliedes, seiner spritzigen Melodie und der Geschichte drumherum nicht vorzuenthalten, verlinke ich hier zu dem Beitrag in der Wiki.

Eine neuere Liveeinspielung aus dem Jahr 2004 ist hier zu sehen und zu hören:

Wer spasseshalber gerne weiter assoziieren möchte, dem sei mitgeteilt, dass der Bandname Steeleye Span auf den Fuhrmann John „Steeleye“ Span zurückgeht. Dieser wiederum ist eine besungene Figur in dem alten englischen Volkslied „Horkstow Grange“.
Es gibt inzwischen auch mehrere Romane in historischem Gewand, die sich an der Königsmarck-Affäre entlangschreiben.
Im Jahr 2016 wurden im Schloss zu Ahlden bei Bauarbeiten im Mauerwerk Skelettteile gefunden. Nach eigehenden Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass sie nicht von Philipp Christoph Graf von Königsmarck stammen.

 

 

 

 

18 Gedanken zu „Steinernes Herz und wuchernde Assoziationen

  1. Da müsste ich erst noch einiges lesen, um zu diesem Eintrag etwas sagen zu können. Aber ich habe ihn jedenfalls mit Interesse gelesen. Auch Arno Schmidt konnte ja einen potentiellen Gesprächspartner mit einer entsprechenden Zurechtweisung arrogant und trefflich vor den Kopf stossen: „Bevor Sie sich mit mir unterhalten können, müssten Sie erst noch einiges gelesen haben“.

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    • Der Roman Das steinerne Herz (Ein historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi) erschien 1956. Falls Sie an der Geschichte des untergegangenen Königreichs Hannover interessiert sind, werden Sie in diesem Roman noch einige andere Details finden. Zum Beispiel geht es um die hannöverschen Staatshandbücher des 19. Jahrhunderts.

      Schöne Grüsse aus Hessen, Herr Ärmel

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    • Der „ältere“? Der ältere Mann oder was meinen Sie? Und was meinen Sie mit „unglaublichen Dinge“? Ich bin noch ein Weilchen wach und beantworte Ihre Fragen gerne, wenn ich sie auch verstehe.

      Nicht minder nächtliche Grüsse von der wohlbeschallten Fähre

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      • Ach so, jetzt verstehe ich.
        Das für mich damals „schier Unglaubliche“ bezog sich auf die Schreibweise Schmidts, seine literarischen Ausgrabungen vergessener Schriftsteller (siehe Haidnische Alterthümer bei Zweitausendeins), die Nachtprogramme – und eben seine assoziative Technik. Das waren seine Hinweise. Und für mich als jugendlich verträumter Leser von Siddharta und ähnlichen Werken deshalb unglaublich und gleichzeitig hochinteressant.

        Morgengruss beim Fahrplanlesen auf der Fähre
        An genaue wörtliche Reden erinnere ich mich nach all den Jahren nicht mehr.

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  2. Inspirierend geradezu, wie Sie Zeitebenen, Menschenschicksale, musikalische und literarische Eindrücke mit der eigenen Lebensgeschichte verbinden und, als wären es Blutströme, mit dem eigenen so gar nicht kalten Herzen verweben. Das war eine schöne Morgenlektüre, danke!

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    • Es ist halt nur dieser eine Song. Ansonsten habe ich Steeleye Span schon ewig nicht mehr gehört. Wie andere FolkRocker aus jener Zeit ebenfalls nicht. Mir scheint, ich habe den Bezug zu dieser Musikrichtung etwas aus dem Blick verloren…

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  3. Oooooh Steeleye Span. Hark! The Village Wait ist eines meiner Alben für die Insel, eine der wenigen Platten aus diesem Zeitraum, die ich heute noch ab und zu höre. Leider kamen die nachfolgenden Platten alle nicht an Sandy Denny, Fairport Convention und Fotheringay vorbei, aber die eine, die tuts noch.

    Von Arno Schmidt hab ich natürlich keinen Plan, so wenig wie von Soulmusic, aber außer der Complete Stax/Volt wäre da noch Hitsville USA, Motown Singles Collection zu empfehlen. Mir waren die Staxsachen zwar immer lieber, aber bei Motown waren auch viele gute Musikanten.

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    • Auch bei mir rangieren Stax (Memphis) vor Motown (Detroit). Donald „Duck“ Dunn und Steve Cropper waren bzw. Steve Cropper ist noch immer ein absoluter Soundmann.

      Ich habe mir Hark! The Village Wait nochmals angehört. Es hat mich nicht so arg vom Hocker gerissen. Bei mir kamen damals Planxty und ebenfalls Fotheringay auf den Schirm. Leider wars bei Fotheringay nach einer LP auch schon wieder vorbei…

      Arno Schmidt muss man nicht kennen. Aber die alten Kurzgeschichten „Aus der Inselstrasse“ sind schon lustig. Und wenn man dann noch die Inselstrasse und die Gegend um den Ostbahnhof in Darmstadt kennt…. 🙂

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  4. Nur eine kleine Anmerkung: Die Schwester des Philipp Christoph Graf von Königsmarck namens Maria Aurora Gräfin von Königsmarck kam 1694 an den Hof zu Dresden, um Friedrich August I. (mit dem Beinamen „Der Starke“) in der oben geschilderten Begebenheit um Hilfe zu ersuchen. Der Kurfürst indessen möchte damals keine diplomatischen Verwicklungen riskieren.
    Allerdings wird die Gräfin zu seiner ersten Mätresse. Bekannter geworden ist ihre Nachfolgerin, die Gräfin von Cosel,

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