Viel gearbeitet in den letzten Wochen. Zeitweise wenig Musik gehört. Neu im Musikalarchiv: Kultur Shock – IX (2014)…
Die blutroten Kelche der stets üppig blühenden Kamelie sind eine Wucht. Der Jasmin neben der Haustür verströmt seinen unverschämten Duft. Nur der mächtige Schachtelhalm macht mir Sorgen. Er ist zwar gut durch den Winter gekommen, aber nun werden die Spitzen braun. Verschiedene Ursachen werden geprüft. Inzwischen habe ich die bräunlich weissen Enden sorgfältig zurückgeschnitten. Die Sommerküche ist bereit. Das Leben verlagert sich zusehends ins Freie.
Ungewollt höre ich ein Gespräch zwischen dem Lehrstuhlinhaber und einem Mathematikprofessor. Studenten hatten sich über die hohe Durchfallquote der letzten Klausur beschwert. Er wurde dazu befragt. Der Mathematiker erklärte seinem Chef, dass das Niveau von Semester zu Semester immer weiter absinken würde. Eine Klausur, die er vor zehn Jahren noch mit hoher Bestehensquote schreiben liess, hätte heute eine Durchfallquote von etwa 80%.
Und ich habe jetzt zum zweitenmal seine Einführungsansprache gehört. Er flehte die Studenten fast schon an, in seinen Übungen zu erscheinen. Auch zuhause verschiedene Aufgaben zu üben. Einem Studenten entfährt das Wort Spass.Wie oft habe ich selbst von Eltern hören müssen, dass Lernen bitteschön Spass machen solle. Mir ist kein Mitschüler begegnet, der aus Spass französische Vokabeln gepault hätte. So geht’s weiter bergab. Langsam vielleicht, aber stetig. Das Schulsystem der ehemaligen Deutschen Republik hatte da eindeutige Vorteile. Da kam es nachprüfbar mehr auf Leistung an als bei den Klassenfeinden der bundesrepublikanischen Leistungsgesellschaft.
Überhaupt habe ich öfter den Eindruck, dass manches auf dem Kopf steht.
Häuser sollen mit Styropormänteln verkleidet werden. Wegen der Energieeinsparung. Inzwischen kann sich jeder informieren, dass die entsprechende Investition sich erst nach ungefähr dreissig Jahren amortisiert. Die Häuser brauchen wegen der Abdichtung zusätzliche Belüftungen. Das treibt die Heizkosten jedoch in die Höhe. Auf dreissig Jahre umgerechnet . . . Ich frage mich, ob die Beteiligten noch ganz dicht sind. Bestraft werden jedenfalls die Vernünftigen. Die machen ihr Haus dort dicht, wo die meiste Energie verloren geht wird. Bei Türen, Fenstern und dem Dach. Zur Strafe kriegen sie keinen Energieausweis und können gegebenenfalls ihr Haus nur schlechter verkaufen.
Beispiele für diesen Wahnsinn nehmen rasant zu. Assistenzsysteme im Kraftfahrzeug. Sie sollen den Lenkern viele Dinge abnehmen. Klingt gut. Vor allem sehe ich im alltäglichen Strassenverkehr jedoch, dass andere Verkehrsteilnehmer ständig den Knecht für diese Systeme machen. Programmieren, individualisieren und kontrollieren. Wollen oder müssen – auf jeden Fall ist es eine Ablenkung und stellt eine Gefahrenquelle im Strassenverkehr dar.
Von den elektronischen Handfesseln und ihren immer neuen, und meist überflüssigen, Spielereien ganz zu schweigen. Spielladen. So heisst doch die Abholstation für die meist sinnlosen Kaufanreize. Unglaublich, mit welch hanebüchenen Rechtfertigungen manche Menschen anschliessend ihre Käufe begründen wollen.
Dabei bietet das Leben mit zunehmender Reduktion immer mehr Freiräume. Der bedeutsamste ist der Zeitgewinn. Zeit sei Geld hört man immer wieder. Dabei wird eher andersrum ein lebenstauglicher Schuh draus. Zeit ist die Abwesenheit von Geld. Und Zeit meint immer auch Lebenszeit. Das ist weder ein Aufruf zu Askese oder gar Armut. Besinnung ist der treffende Begriff.
Dass Autonomie und herzenswarme Lebensfreude ebenfalls enorm anwachsen können, habe ich mir vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können.
Vor über zwei Jahren begann das waghalsige Experiment. Das Ladenlokal mit dem kleinen angrenzenden Areal sollte als Arbeitsstätte und Wohnung gleichermassen dienen. Reduktion als alltägliches Erlebnis. Was anfangs wie ein Traumgespinst klang, funktionierte am Ende tatsächlich. Aus dem Verkaufsraum wurde je nach Bedarf und Tageszeit die Küche und der Lebensraum. Zu allen Jahreszeiten.
Ohne die üblichen Einrichtungen, die angeblich für ein behagliches Leben unverzichtbar sein sollen. Heizkörper und fliessend kaltes Wasser aus zwei Hähnen standen zur Verfügung. Dem Wasserkocher, der sich am Ende aufgelöst hat, danke ich dafür, dass er bis zum Ende durchgehalten hat. Zugegeben, eine Waschmaschine diente an einem anderen Ort der Bequemlichkeit. Und im Keller summte ein geschenkter Minikühlschrank.
Dieses manchmal abenteuerlich anmutende Projekt ist beendet worden. Die einfache Kochstelle mit der Gasflasche und einigen Gerätschaften bilden jetzt die hiesige Sommerküche. Fliessend warmes Wasser erscheint mir inzwischen als Luxus. Und die Dusche grenzt bereits an Überfluss. Jetzt gilt es, die erworbenen Fähigkeiten zu erhalten und zu erweitern.
Am vergangenen Sonntag war ich seit Jahrzehnten wieder einmal in der hiesigen Eisdiele. Die alte Musikbox war nicht mehr da. Da haben wir gesessen nachmittagelang. Mit zu wenig Geld in der Tasche und viel zu viel Zukunft im Kopf. So nuckelten wir schier ewig an unseren Milchmixen, bis wir irgendwann zum Gehen aufgefordert worden sind. Mit einigen früheren Klassenkameraden war ich letzte Woche wieder einmal an jenem Erinnerungsort meiner Jugend.
Die Bestellung: „Einen Milchmix Nuss, bitte“, verstand die junge Bedienung nicht. Kein Wunder, heute muss man Milkshake sagen, wenn man verstanden werden will. Und Schmirgelpapier in der Nase haben, wenn einem vom aufdringlichen Parfum der jungen Frau nicht gleich schlecht werden soll. Ausserdem hatte sie die zur Zeit modischen, jede Körperfalte abzeichnenden Gummihosen an statt eines weissen Schürzchens und des unverzichtbaren weissen Kränzchens im Haar.
Nie wieder in eine Eisdiele oder eine Milchbar – alles im Leben hat seine Zeit. Überhaupt die Veränderungen allerorten.
Die Zauberflöte in der Semperoper war ein ganz besonderes Erlebnis. Sowohl das Gebäude wie auch die Aufführung. Klasse fand ich, dass am linken oberen Bühnenrand die Texte eingeblendet wurden. Was mich vom Besuch von Opern meist abhält, ist, dass ich häufig kein Wort der Gesänge verstehe.
In diesem Fall waren die eingeblendeten Texte geradezu verführerisch. Und so sang ich manche Arie schön leise mit. Ich bin mir schliesslich bewusst, dass das Publikum nicht wegen mir in diese Vorstellung gekommen ist. Dennoch murmelte ich offensichtlich nicht leise genug. Der Chinese neben mir zischte mich mit feindseligem Blick an: Mister, don´t sing please!
Ich verstummte augenblicklich. Und stellte mir vor, was der überaus humorvolle Herr Mozart an meiner Stelle dem humorlosen Mann mit der wichtigen Umhängetasche wohl entgegnet haben mochte.
Nichts bleibt wie es war. Aber auch nichts wird wirklich vergessen. Vor zwei Wochen war ich weiter nördlich unterwegs. Wollte bei dieser Gelegenheit auch im famosen Hinterhof vorbeischauen. Dort fand im vergangenen Jahr ein rauschendes Jubiläumsfest statt. Die Gittertür war an diesem Samstag verschlossen. Im verlassenen Hof standen einige Mülltonnen verloren herum. Die Schaufenster waren verwaist.
Frau Knobloch bitte melden Sie sich !
Einige andere erstaunliche Begebenheiten wären erzählenswert. Aber das Wetter ist verlockend schön. Der Garten einladend. Und ein kühler Apfelwein im Gerippten lässt mich nicht länger zögern.
Ich wünsche allen Besuchern, Lesern und Guggern fröhliche Frühlingstage
(Der zahnlose Löwe mit dem Löwenzahn)
