Wenig Musik gehört in den letzten Wochen. Dafür viel gelesen.
Yuval Noah Harari – Eine kurze Geschichte der Menschheit.
Van Bo Le-Mentzel – Der kleine Professor.
Und zur Zeit: Erwin Strittmatter – Der Laden.
Klingende Töne zum Frühstück: Dead Can Dance – Dionysus (2018)…
Leere Läden in der Innenstadt. Ein Vorurteil. Es gibt in fast jeder Strasse ein Nagelmalerstudio, einen Tätowierladen oder eine Piercingwerkstatt als letzte Instanzen, wo für das breite Publikum noch eine echte Kommunkation stattfindet. Oder man hält sich einen Hund.
Ich bin mit Hunden aufgewachsen. Gebrauchshunde. Jagdhunde, Wachhunde. Folglich stehen sie mir noch immer näher als Katzen. Die Sympathie bekommt jedoch zusehends Risse. An den Hunden liegt das meist nicht. Zumindest so lange sie an der kurzen Leine geführt werden.
Es sind Leinenhalter, die sich Hunde anschaffen. Als lebendige Spielzeuge, Partner- oder Kinderersatz. Und natürlich auch als Einsamkeitsvertreiber. Irgendeine Ansprache auf der emotionalen Ebene braucht schliesslich jeder Mensch. Und so hört sich das dann gelegentlich an.
Kannst du das nicht mal lassen? Wie oft muss ich dir das denn noch sagen? Jetzt merk´ dir das doch endlich mal!
Im urbanen Raum werden immer mehr Flächen verdichtet. Grünflächen für Hundescheisse und -pisse werden rar. Einziger Vorteil, Hundebesitzer haben durch ihren vierbeinigen Besitz sogleich ein Gesprächsthema. In manchen Städten werden mittlerweile Hochbeete für Blumen oder kleine Bäume angelegt. Ein wichtiger Grund dafür liegt auf der Hand. Was den unsozialen Hundebesitzer natürlich nicht abhält. Er nimmt seine Fusshupe oder die frisch gestriegelte Flohschleuder in die Hand und setzt das Tier zum Kacken hoch ins Beet. Da machens die grossen Tölen ihren Besitzern leichter. Die hüpfen alleine hoch. Es ist widerlich, wie einige öffentliche Anlagen inzwischen aussehen.
An der Strassenseite des Ärmelhauses zieht sich ein flachwüchsiger Efeu am Sockel entlang. Seit Jahren trotzt er tapfer der täglich auf ihn hinrieselnden Hundepisse und den stinkenden Tretminen der Köter.
Wir könnten die freien Stellen unten am Sockel mit grossen Kieselsteinen belegen und dazwischen Steinbrech und andere unempfindliche Pflanzen anwachsen lassen.
Und die Hundebesitzer, frage ich stirnrunzelnd.
Wir könnens ja mal versuchen.
Das Ergebnis sieht gut aus. Inzwischen haben einige Wurzeln den Weg zwischen den Fugen der Verbundsteine hinunter ins Erdreich gefunden. Dadurch fühlen sich manche Zeitgenossen offensichtlich aufgefordert die grossen Kieselsteine als Steine zum Anstossen zu nehmen. Also werde ich in den kommenden Tagen die Steine in ein Zementbett legen müssen. Wer blaue Zehen begehrt, dem soll dieser Wunsch erfüllt werden.
Ihr habt die Pinkelecke aber schön hergerichtet.
Der Nachbar arbeitet zielstrebig an seiner Karriere als Deppchef. Er wohnt einige Häuser weiter auf der gegenüber liegenden Strassenseite. Und hat einen Hund. Er kommt die Strasse runter mit seinem Tier an der Leine. Bleibt genau gegenüber stehen. Der Hund muss sitzen machen. Das dauert. Ich vermute, der Hund will einfach weiterlaufen. Wie mit den anderen Familienmitgliedern auch. Hunde sind Gewohnheitstiere. (Welcher Bremer Stadtmusikant gibt den Rhythmus mit der Pauke vor?). Endlich sitzt das Tier befehlsmässig. Es erhält seine Kaubelohnung. Der Nachbar quert die Strasse mit seinem Hund. Und führt ihn zum Pissen zielstrebig an den Efeu. Ich bin ein untypischer deutscher Nachbar. Streit übers Hoftor liegt mir nicht.
Ich beobachte lieber und lerne dazu. Erfahrungen sind fruchtbarer als Streiterien.
Zufällig sehe ich den Deppchef, als er just die Strasse überquert. Schlagartig kratzt er die Kurve, als er mich wahrnimmt. Das Ärmelhaus ist ein Eckhaus und so biegt er mit seinem Tier in die andere Strasse. Letzthin öffnete ich frühmorgens die Jalousie. Er schien mich nicht zu bemerken. Sportlich reisse ich das Fenster auf. Der Deppchef reisst nicht minder sportlich an der Leine und kläfft seinen Hund an.
Musst du immer dahin laufen. Das ist doch alles schön gemacht. Kommst du jetzt wohl.
Vorige Woche standen wir uns Auge in Auge gegenüber und er sagt lobend:
Ihr habt die Pinkelecke aber schön hergerichtet.
Ebendrum, weil es keine Pinkelecke ist.
Aber der Efeu. Irgendwas hat der, dass der Hund da immer hin will.
Ja klar, weil jeder seinen Hund in den Efeu pinkeln lässt. Ist doch wie Zeitunglesen für Hunde.
Aber ihr habts schön gemacht. Sieht richtig klasse aus.
Genau, deshalb hoffen wir auch, dass die Pinkelei aufhört, weil es so ansehnlich ist.
Ach so. Es gibt Gesichtsausdrücke, die kann man nicht beschreiben…
In der Einführungsvorlesung stellt der Professor für Gestaltung digitaler Medien den Studenten eine Frage.
Welche elektronischen Aparaturen nutzen für Ihr Studium?
Ein einziger Studi verwendet zuhause noch einen Computer. Etwa ein Drittel der Studierenden nutzt Notebooks oder Tablets. Der grosse Rest benutzt hauptsächlich die elektronische Handfessel. Und die ersten schielen bereits nach dem Armband zur Sebst- und/oder Fremdüberwachung. Mit dem man der Welt zeigen und mit-teilen kann, was wirklich zählt im Leben, zum Beispiel wieviele Schritte noch fehlen zur Erreichung des individuellen Tagespensums.
Bei den Studierenden ist diese frappierende Naivität auffallend. Es gibt kaum einmal eine kritische Nachfrage zu den Vorlesungen der Dozenten. Zukünftige akademische Hilfsarbeiter, die immer unnötigere neue Apps erfinden. Mit denen sollen die Internetnutzer vom Wesentlichen abgelenkt werden. Das Rotkäppchensyndrom. Konsumartikelhersteller und Dienstleistungsanbieter als reissende Wölfe. Und hier werden ihre willfährigen Knechte herangezogen. Deren Grosseltern waren noch Handwerker, Bauern oder Büroangestellte. Haben Dinge hergestellt oder bearbeitet, die für die meisten Menschen weitgehend nutzbringend gewesen sind.
Früher habe ich mir vor Wahlen manchmal die Reden von Politikern vor Ort angehört. Es waren nicht viele Reden und es ist lange her. Zu viel fette Sahne statt handfestem Eintopf mit deftigem Schwarzbrot.
Eher zufällig wurde ich vor zwei Jahren Zeuge eines Auftritts des Spitzenkandidaten der Demokratischen Union Deutschlands. Fünfzig, seine floskelnden Schlagworte beklatschende Nichtdenker zollten Beifall für Luftballons und Kugelschreiber. Der Wahlkrampfmanager hatte den Tourbus der Wasserträger mit Parolen verzieren lassen. Ausgerechnet genau zwischen den Rücklichtern prangte die nichterfüllende Prophezeiung: „NRW – nie wieder Schlusslicht“. Obs daran lag, jedenfalls hat seine Partei die bis dahin regierende vormals sozial Demokratische Partei ab. Schlusslicht ist das Bundesland auch nach dem Regierungsparteienwechsel geblieben.
Die für meine diesjährige Wahl zum europäischen Parlament entscheidende Wahlkampfrede habe ich, wie mir scheint, bereits mehrmals gehört und in meinem Herzen wohl bewegt. Die Namen und einige Phänomene mögen sich geändert haben, die grundlegenden Probleme sind geblieben. Und neue sind hinzugekommen. Das Gift der politischen Korrektheit wird allerorten versprüht.
Man könnte fast verzweifeln angesichts dieser einst schleichenden und jetzt masslos beschleunigten Veränderungen. Gäbe es da nicht die verbliebenen Inseln der Menschlichkeit.
In dieser Woche waren wir in einer der letzten echten Frankfurter Apfelweinwirtschaft. Wir betraten das Lokal gegen achtzehn Uhr. Sechs Tische. Fünf lange Tische mit Bänken auf beiden Seiten. Auf dem runden Tisch verweist ein Schild auf den Stammtisch. Auf drei anderen Tischen stehen Klappschilder mit der Aufschrift reserviert. Wir setzen uns zu den alten Männern.
Der Abend war so grandios, dass wir danach Gästerezensionen im Internet suchten. Von stürmischer Begeisterung bis hin zu eindringlichen Warnungen waren die Bewertungen. Allein diese Bandbreite ist mir ein positives Qualitätsmerkmal. Wo alle begeistert sind, kann etwas nicht stimmen. Wo mehrheitlich gewarnt wird, werde ich jedoch vorsichtig.
Da wird vor dem maulfaulen Wirt gewarnt. Der Mann ist sechsundachtzig und arbeitet seit fast siebzig Jahren hinter der Theke. Bei einem meiner ersten Besuche sprach er uns an und fragte, woher wir kämen. Es entspann sich ein Gespräch, in dessen Verlauf er uns viel von sich und seiner Wirtschaft erzählte.
Von bösartigen alten Männern und deren Sprüchen kann man in den anonymen Kritiken lesen. In der Tat erinnern manche an Waldorf und Statler aus der Sesamstrasse. Neben uns die beiden haben diese Lachfältchen, die Gutes verheissen. Eine aufgemöbelte Blondine betritt den Schankraum.
Der Alte neben uns bemerkt grinsend: Siebzehn Jahr´ blondes Haar.
Eher zweimal siebzehn wenn nicht dreimal, entgegne ich. Wir lachen herhaft. Immer mehr Gäste kommen herein. Nach und nach werden die Reserviertschilder von den Tischen genommen. Es ist auffällig, dass keine Handtelefone auf den Tischen liegen. Das liegt nicht nur am Durchschnittsalter der Gäste. Hier sitzt man zusammen an langen Tischen und spricht miteinander. Es wird lauter. Die Beiz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Der Wirt nimmt immer wieder den Zehn-Liter-Bembel aus dem Schwingestell auf der Theke und füllt ihn erneut. Bier steht hier nicht auf der Getränkekarte.
Neben uns sitzt jetzt ein anderer älterer Herr. Er kommt aus dem bayrischen. Hat früher lange in Frankfurt gearbeitet. Als Steinmetz hat er ein bekanntes Kunstwerk an markanter Stelle geschaffen. Seit einigen Jahren ist er Witwer. Kommt immer wieder hierher. Kann von der Stadt und dieser Wirtschaft nicht lassen.
Uns gegenüber nehmen zwei Frauen Platz. Ihre Berufe könnten unterschiedlicher nicht sein. Leben seit vielen Jahren in einer Fernbeziehung. Die Gespräche werden persönlicher. Wie gesagt, hier liegen keine Handfesseln auf den Tischen. Und spätestens sollte erkennbar sein, warum anfangs die Reserviertschilder auf den Tischen stehen.
Besonders kritischer Bewertungen erfreut sich der Kellner. Kein Mann für Gelaber. Ist dein Glas leer, tauscht er es gegen ein volles Glas aus. Unaufgefordert. Wer nichts mehr mag, legt seinen Deckel aufs Glas. Hin und wieder können seine Sprüche verwirren. Einmal standen Gäste unter der Tür. Suchten offensichtlich freie Tische. Es waren freie Pläte vorhanden. Der Kellner sprach sie an. Sie würden einen freien Tisch suchen. Er zeigte auf freie Plätze. Sie schienen unentschieden. Er sagte kurz: Also, wenn Ihr schauen wollt, dann geht am besten ins Museum.
Als ich einst einen „Äppler“ bestellte. fuhr er mich an: Wenn du Äppler willst, den gibts drüben am Kiosk. Hier gibts Apfelwein. Dazu muss man wissen, Äppler ist ein Kunstwort, das in der Marketingabteilung einer industriellen Apfelweinmosterei erfunden worden ist. Und leider immer mehr Verbreitung findet. Besonders bei Leuten, die nicht von hier sind. Uffgeplackte.
Und es fällt auf, dass in dieser Wirtschaft vorwiegend Einheimische verkehren. Südhessischer Humor ist nicht jedermanns Sache. Es wird immer lauter. Kreuz und quer wird durch das Lokal geredet und gerufen.
Mir fällt eine Szene ein, die ich vor Jahren hier erlebte und die mir die Atmosphäre in dieser Wirtschaft so kostbar macht.
Zwei Jungkarrieristen mit engen blauen Anzugshosen und langen brauen Spitzschuhen betreten das Lokal. (Braun und blau kleidet die Sau – auch das war so eine der Lebensweisheiten meiner Urgrossmutter). Die beiden Typen schauen sich um. Nehmen schliesslich Platz neben einem Mann mit gelber Armbinde. Der trinkt seinen Schoppen. Sein Hund liegt ruhig zu seinen Füssen. Die beiden fühlen unsicher in dieser realen Umgebung. Rundum Gebabbel und Gelächter.
Schliesslich meint einer der beiden den Blinden ansprechen zu müssen und schnörkelt los: Ein schönes Tier haben Sie da. Das hat doch sicher eine gute Ausbildung.
Freilich, entgegnet der Angesprochene, der ist gelernter Industriekaufmann.
Bei dem Alter des Wirtes stellt sich immer häufiger die bange Frage, wielange es dieses Lokal noch geben wird. Wie das weitere Schicksal solcher Lokalitäten aussieht, ist sattsam bekannt. Wir wissen, dass nichts bleibt und bedauern es oft.
Wir verlassen nach den mächtigen Rippchen mit Kraut und etlichen Schoppen mit den beiden Frauen das Lokal und fahren nach Bornheim. Wir verabschieden uns voneinander, denn unser Weg führt zu einem letzten Schoppen in eine andere (vormals )legendäre Frankfurter Apfelweinkneipe. Auch dort ergab sich rasch ein Gespräch. Aber das würde den Rahmen sprengen.
Nichts bleibt? Doch. Die Menschlichkeit und der Humor.
Ich wünsche allen Besuchern, Lesern und Guggern ein feines Wochenende.