Für graue Februartage ebenso stimmig wie in einer lauen mexikanischen Nacht. Die Königin der Rancheras:
Chavela Vargas – ¡Por Mi Culpa! (2010)…
Durch jahrelanges Viellesen und -schreiben wird eine Korrektur meiner optischen Prothese erforderlich. In den Ländern, in denen ich für Jahre lebte, waren die Überprüfungen kein Problem. Ich war beim Optiker. Professionelles Equipment, Vermessung, Kontrollprüfungen. Alles wie erwartet. Dann das „empfohlene“ Brillenglas. Und der Preis dafür. Mein Blick liess die Frau ein anderes Glas zu einem niedrigeren Preis nennen. Das spielten wir einige Male durch, bis der Preis akzeptabel war.
„Jetzt brauchen wir nur noch das Rezept für den Zuschuss von der Krankenkasse“, sprach die Fachfrau, „das brauchen Sie nur bei einem Augenarzt abzuholen mit dem Hinweis auf die hier erfolgte Überprüfung.“
„Wieso sollte der Augenarzt das machen ohne Augenkontrolle?“
„Tja, die verdienen da heutzutage nichts mehr dran.“ – Gutgläubigkeit gehört bestraft. Und die Strafe folgt auf dem Fuss. Keiner der telefonisch kontaktierten Augenärzte ist bereit ein Rezept zu geben ohne zuvor erfolgte Kontrolle.
Die Mitarbeiterin des ortsansässigen Optikers hat mir fünfundvierzig Minuten meines Lebens gestohlen. Was sind die wert im Vergleich zu zwei neuen Brillengläsern?
Die ersten Schreibübungen für den Lebensweg eines deutschen Menschen. Der verflixte erste Satz. Die Materialfülle ist immens. Zur Verifizierung mancher Fakten und Daten stehen immer weniger Zeitzeugen zur Verfügung. Altersgemässer Schwund. Und die neuerlich unangenehme Erkenntnis, dass man bei nötigen Rückblenden ständig mit beiden Füssen im braunen deutschen Sumpf landet. Es ist mir mittlerweile unerträglich, von Opfern des „Nationalsozialismus“ oder des „Naziterrors“ zu lesen. Der „Nationalsozialismus“ und der „Naziterror“ wurde durch deutsche Menschen gelebt und realisiert. Und im Moment muss man diese Verharmlosungen wieder tagtäglich hören und lesen. Wann wird man endlich beginnen von den Tätern konkret zu sprechen und zu schreiben. Es waren deutsche Männer und Frauen nationalsozialistischer Gesinnung, die europaweit andere Menschen entwürdigt, beraubt, gedemütigt, terrorisiert und letztendlich ermordet haben.
Die grandiose Ausstellung im Frankfurter Städel. Making Van Gogh. Fünfzig Werke. Leihgaben von weltberühmten Museen. In dieser Zusamenstellung einmalig. Enormer Andrang. Eine mehr als hundert Meter lange Schlange vor dem Eingang. Wir haben eine Reservierung und dürfen direkt zum Eingang. Innen fast die Entmutigung angesichts des Gedränges. Aber gugge und lernen kann man überall. Meine famose Begleiterin hat die grandiose Idee, im Windschatten den geführten Gruppen zu folgen. Wenn diese ein Gemälde verlassen, haben wir die Möglichkeit dieses Werk aus nächster Nähe anzuschauen. Van Goghs Farbpalette berauscht die Pupillen. Es handelt sich entgegen der Werbung („aus allen Schaffensperioden“) fast ausschliesslich um Gemälde seiner letzten Lebensjahre. Und das „Making“ erklärt am Rande, wie ein Marketing zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts funktioniert hat. Van Gogh wurde von deutschen Kunsthändlern gehypt, wie man heute sagen würde. Van Gogh starb 1890 im Alter von 37 Jahren. Seine Bilder waren zu diesem Zeitpunkt fast unverkäuflich. Aber bereits um 1910 kostete ein Gemälde zwischen zehn- und zwanzigtausend Mark.
Das interessiert nur wenige Besucher. Die meisten treibt anderes um. Man könnte es das Ich & Van Gogh Syndrom nennen. Mit dem Rücken zu einem Bild, um mit gezückter Handfessel ein Selbstportrait zu schiessen. Darüber kann man sich als Zuschauer lustig machen. Aber weitaus befremdlicher waren die vielen Kultursimulanten, die sich einem Gemälde näherten, das Kunstwerk mit der Handfessel anvisierten, abdrückten und beim Weiterziehen das Bild auf dem klitzekleinen Bildschirm betrachteten. Offensichtlich hat für diese Menschen das Abbild einen grösseren Wert als das Kunstwerk an sich. Ich denke an Walter Benjamins Essay von 1935 „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Die von ihm darin beklagte „Zertrümmerung der Aura“, hier findet sie in ungeheurem Ausmass statt. Ich finde es bedauerlich, wie wenig Wertschätzung diesen Kunstwerken entgegengebracht wird..
Ich wünsche allen Besuchern, Lesern und Guggern einen hellen Februar.
(Die Fotografien wurden freundlicherweise von meiner bonfortionösen Begleiterin zur Verfügung gestellt)
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