Hoch im Norden

Nach verbalen Eruptionen absurder Güte kommt die Musik zur Erholung livehaftig von der Strasse…

Fronleichnam ist schuld. Beim Online-buchen hat mich der Feiertag im Süden bzw. der Arbeitstag im Norden irgendwie verwirrt. Das Ergebnis, richtiger die Ergebnisse: 1. Ich habe die Platzreservierung unterlassen und 2. war der Zug völlig überbucht, sodass ich mit einigen hundert anderen „Fahrgästen“ die vierstündige Reise von Bembeltown ins Venedig des Nordens stehend in der rasenden Zigarre zubrachte. Was andererseits den Vorteil hatte, im Grossraumwagen rundum schauen zu können. Das tat auch Not, denn einerseits war ich in einer Art Gegenwelt aufgeschlagen und andererseits konnte ich mich so hin und wieder vom Grauen vor meinen Augen erholen.
Aufgrund u.a. des Feiertags reiste eine Menge Volks nach Hamburg um dortselbst ein langes Wochenende zu verbringen.
Meine Aufmerksamkeit wurde anfangs hauptsächlich von den, wie ich sie für mich getauft habe, „Glorreichen Sieben“ angezogen. Ein Gruppe lustiger Vögel, der regionalen Dialektfärbung nach verortete ich sie in der Gegend um Offenbach. Direkt nach Inbeschlagnahme der Sitzplätze ploppten die ersten Kronkorken. Einer öffnete die grossdimensionierte Jutetasche und verteilte Brötchen: „Kennder gugge, sinn Blut- unn Lewwerworschdweck. Die Weck hunn isch selwer gebagge heid moin um sechs“.
„Geh fordd, mach ka Sache“, meinte ein anderer.
„Klar um sechs hodd doch noch kaan Bäcker uff“, gab der erste zurück
„Wo hosde die dann gebagge, in deim Hasestall vielleicht?“ Gröhlendes Gelächter von erneut ploppenden Kronkroken begleitet. Das erste Bier morgens um acht soll ja angeblich das erfrischenste sein. Nach der kräftigenden Sättigung wurden die Karten gemischt. Vier kloppten Skat, drei pokerten, Sprüche kloppten sie alle lautstark und ausdauernd.
Oma, Mutter und drei Kinder aus dem Saargebiet. Seit „Heinz Becker“ amüsiere ich mich gerne an dieser kühnen Dialektartistik, die nicht nur Endungen von Verben in den Vergangenheitsformen abschneidet, sondern Frauen und Mädchen auch gerne mit dem sächlichen Geschlecht (Neutrum) belegt. Die reisende Familie hatte das überaus starke Bedürfnis, die Mitreisenden im überfüllten Grossraumabteil an ihrer Privatkommunikation teilnehmen zu lassen. Die explosive Mischung aus Cholerik und Grobschlächtigkeit wurde gekonnt in die Sprache gelegt. Das mobile Telefon der vielleicht 35-jährigen Mutter geräuschte. „Joh? – Ach du bischd dahs.“
„Wer issesen?“, schepperte die Oma dazwischen.
„Ess Gabi“, schnauzte die Tochter zurück. Es Gabi, also nicht das Gabi, sondern die Gabi ist damit gemeint.
„Joh, hoschdede Zeddel nedd gefunn?“, fragte die Tochter.
„Wannden nedd finne duhschsd, dann hosschde Pesch gehabt, dann werrschde de Weesch nedd finne“. Die Oma will offensichtlich mitreden, was die Tochter aus dem Konzept bringt und zur plärrenden Anmache veranlasst.
„Joh, den Zeddel hunn isch derr in die rechd Hosedasch geduh, wannde die Hosse nedd agezooch hoschsd, bischde selwer schuld“…. Und so weiter – ad.lib.
Und dann die beiden Pärchen aus dem südhessischen, angetreten mit dem Aussehen und Benehmen alle landläufig gängigen Vorurteile zu bestätigen. Begannen auch gleich hinter Frankfurt mit dem Vorglühen in ein spassiges Hamburger Wochenende. Captain Morgan. Aus der den Dosen. In Kassel musste der Treibstoff Hungergefühle ausgelöst haben. Zwei grosse Ringel Fleischwurst und übergrosse Brötchen machten die Runde. Die guten Leute wurden zunehmend munterer und ab Göttingen wurde der Captain Morgan entlassen und dafür kam Rotkäppchen zu der Gesellschaft. Also erstmal zwei Flaschen Rotkäppchen Sekt. Im gleichen Masse wie die Glorreichen Sieben leiser wurden – bei steigendem Alkoholkonsum muss man sich bekanntlich beim Kartenspiel besser konzentrieren – stiegen bei den beiden Pärchen Pegel, Laune und Lautstärke. Und alles untermalt vom schimpfenden und belfernden Begleitgeräusch aus dem Saargebiet.
Von der Unterhaltung der Pärchen hakte sich dieser sinntiefe Merkspruch unauslöschlich in meinen Erinnerungskasten.
„Mir hawwe jetzt neierdings um fünf Feierowend“. Der Mann von Pärchen 1.
Die Frau von Pärchen 2 erwiderte kindlich flötend: „Mir könne jetzt schunn um vier gehe. Unn warum?“
Darauf alle gemeinsam singend: „Weil merrs könne“. Ausgelassen prustendes Gelächter. Anstossen. Das fiel mir besonders auf, das jeweilige und vor allem vielmalige Anstossen mit Blechbüchsen und Plastikbechern. Wie dem auch sei. Ich war froh, als der Zug im Zielbahnhof einfuhr. Die Glorreichen Sieben waren einfach nur gut drauf. Die fünfköpfige Familie aus dem Saargebiet blaffte sich gegenseitig an und die beiden Pärchen hatten erfolgreich die 1Promille Hürde für ein gediegenes Hamburger Spasswochenende überwunden.

Ich bin froh als ich meinen besten Freund und Abholer im Gewühl des Bahnhofs entdecke. Ich bin wieder auf dem Boden meiner Wirklichkeit angekommen. Freude, Hunger, Durst und überhaupt.
In der Spittalerstrasse höre ich vertraute Töne. Dort steht Abi Wallenstein. Welche Freude. Wir wechseln einige Sätze und dann legt Abi die Hand auf die Saiten und singt mit seiner wunderbaren Reibeisenstimme einen gefühlvollen Blues dazu. Mit meinem Freund gehe ich traditionsgemäss zu Daniel Wischer. Goldbarsch, Kartoffelsalat und eine grosse Fassbrause (Hamburger National) sind schon fast ein Muss. Danach schlendern wir ein wenig an der Binnenalster, durch die Colonnaden und über den Neuen Wall. Am Neuen Wall ist der Teufel los mit Fernsehteam und Menschenmassen. Sebastian Vettel soll kommen sagt einer aufgeregt und knipst mit weit hochgehaltenem Handy ziellos über die Köpfe. Am Ballindamm kommen uns tatsächlich Rennwagen entgegen. Ob einen davon allerdings Vettel pilotiert, ist uns schnurz. 
Es gibt viel und vor allem wichtigeres zu erzählen.
Und später gehts dann in die Residenz derer Friedriche. Paul-Friedrich, Friedrich-Wilhelm, Adolf-Friedrich, Friedrich-Franz – – Georg… 

     (Foddo kligge unn gross gugge. Foto anklicken öffnet die Galerie. Alle Fotos OoC)


11 Gedanken zu „Hoch im Norden

  1. Auch das ist reisen…..

    Die Famile Äppelwoi im Rücken, das ist ja beste Komik. Besser allemal als drei Stunden Arztberichte, nervöse Telefonate mit der Stabsstelle oder einem Allesversteher im Bus einen Sitz weiter.

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  2. Jo, de Heinz mit der Batschkap ist scho gutt.
    Seine Bühnenprogramme habe fast alle auf CD. Im Fernseh `n war er nicht so mein Fall.

    Da muss ich gerade an den Vater denken, der mir letzte Woche erzählte, wie seine Kinder in der Grundschule „Deutsch“ lernten, frei nach: Schreiben wir man spricht.
    Ich denke, dass hat dann so ähnlich ausgesehen, wie dein lustiger Beitrag von oben.

    Allerdings, jetzt stellen sie mal wieder um, und nun kommt der Vater aus dem Haare raufen nicht mehr raus. Und die Kinder verstehen garnicht richtig, warum Vatter sich so aufregt:)

    Wenn einer eine Reise tut – dir noch viel Freude und Spaß

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  3. Ja Mensch, da biste in meiner Heimat und ich gleichzeitig woanners, was für ein unglücklicher Zeitpunkt. Aber ausgerechnet zum Hafengeburtstag nach Hamburg zu reisen, da war die Mischung im Abteil kein Wunder.

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  4. Hallo Knut,
    ich hoffe Du bist gut in heimatlichen Gefilden angekommen und hast von der Rückroute ebenso Amüsantes zu berichten. Solche Reiseberichte sollten veröffentlicht werden.
    Dein Ossifreund aus MHL

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  5. Wer ist Knut? Kenn ich nicht, denn mein Vorname ist Herr, in Gänze Herr Ärmel.
    Der Anflug war etwas unruhig, aber der Pilot hat die Maschine heil runtergebracht 🙂

    Es war schön, Dich getroffen zu haben und ich hoffe unser Gesprächsstoff wird noch interessante Erkenntnisse zutage fördern.
    Schöne Grüsse vom Schwarzen Berg

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