Drei Tage drei Städte

Im Archiv ausgegraben: Rasputina – The Lost & Found (US2003)…

„Blind verlasse ich mich heute nur noch auf Erinnerungen, die nie dokumentiert wurden. Nicht, weil die Fotografien lügen würden, sondern weil sie einem im Gegenteil jene halben Lügen verbieten, welche die echte Hälfte aller wahren Erinnerungen bilden.“ (* alle Zitate s.u.)
In der toten Automobilstadt. Endlich kann ich genau sagen, in welchem Haus mein Grossvater geboren ist. Das Haus steht nicht mehr. Nein, nicht wegen Fliegerangriffen. Die Automobilproduktion nahm einen solch ungeahnten Aufschwung, dass die Fabrik immer weiter ins verschlafene Bauerndorf metastasierte. Und plötzlich wohnten da Ingenieure, Abteilungsleiter. Kleinbürgertum. Hausbesitzer, deren Häuser dem Wachstum im Wege waren, wurden grosszügig entschädigt. Neues Haus, grösser, schöner und auf dem neuesten Stand der Haustechnik. Am Stadtrand. Damals war das der Stadtrand. Vor den Folgen der Flächenbombardements und dem anschliessenden Zuzug vieler geflohener oder vertirebener Menschen aus anderen Gegenden. Die wurden hier zwar dringend gebraucht aber wenig gemocht. Heute sind andere Menschen unbeliebt.

„Dann plötzlich, eines Morgens unter klarem Himmel, hatte ich schliesslich guten Grund, mich der Worte meines Grossvaters in allen schwierigen Lebenslagen zu entsinnen. »Während das Böse herrscht, entsteht das Gute«“(*)
Nach Frankfurt. Ich will mich in die Arme der alles beschützenden Bibliotheken begeben. Dort ist noch Sicherheit. Ich will das jedenfalls glauben. Mir gegenüber sitzt ein Mittdreissiger, dessen zarte Gesichtszüge schlecht zu seiner Tätowierung auf dem linken Zeigefinger passen. Globige Billiguhr am Handgelenk. Ordentliche, sauber gescheitelte Frisur. Im Zug zwei Strassenmusikanten. Der Fingertätowierte schaut kurz zu mir. Unsere Blicken treffen sich. Nein, liebes Gegenüber, keinen Kommentar meinerseits zur Musik.
Den machen die anderen beiden Männer auf unserem Vierersitz. „Die gehörn doch ins Abbeitslaacher.“ Und endlich darf mein Gegenüber auch kommentieren: „Die spiele immer desselbe, nur die eine Nummer.“ Eben spielen die Musikanten eine zweite Nummer. Man kann nicht alles wissen, auch wenn man die Wiederholungen angeblich jeden Tag hören muss.

„Ich war ungewöhnlich gut gelaunt. Möglicherweise lag es daran, dass meine Aversion gegen Reisen schwächer geworden war…“(*)
Markttag. Vor der Rochuskapelle. Um elf. Die Lichtspiele im Dom sind an diesem sonnigen Vormittag wunderschön. Schlicht. Im Dom erklärt eine Frau einer Kindergruppe verschiedene Wappen und vor einem Beichtstuhl das dazugehörige Sakrament. Mit jüngeren Kindern ist es viel spannender in Kathedralen auf den behauenen Steinen die Zeichen der Steinmetze zu entdecken.
Um kurz nach Elf bekomme ich das vor längerer Zeit versprochene Buch überreicht und lerne im Weitergehen ein neues Café kennen. Ganz herzlichen Dank dafür. Das heisst, eigentlich ist es ein älteres Café. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in früheren Jahren sehr oft schon daran vorbeigelaufen bin, ohne es als Café wahrzunehmen. Der gedeckte Apfelkuchen war ein Knaller. Rechts neben der Eingangstür kann man beim Hinausgehen lesen: „Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was sondern bei So isses.“
Wie gut, dass wir uns dennoch menschliche Begegnungen wünschen können und sich diese Wünsche gelegentlich auch erfüllen.
Ich wünsche allen Besuchern, Lesern und Guggern eine erfüllende Woche.

(*) Die Zitate stammen aus: Fredrik Sjöberg – Der Rosinenkönig oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen. Berlin, Galliani, 2011.

(Foto anklicken und gross gugge)

52 Gedanken zu „Drei Tage drei Städte

  1. Der cafébewußte Herr Ärmel, dankend die Echthalberinnerungen hinwegverbauter Häuser vom Bösen zum Guten wendend, flanierte olympusbehängt drei Städtetage, eine Bibliothek und mindestens zwei Gesänge sowie einen Elf lang, um ein so isses mit nullerngescheiteltem Knallergedeck zu verspeisen und dankend zu lobpreisen, hoch lebe die Wünschbegegnungszeit.

    Es grüßet wohlgemuth in die Woch hinein das Salvaland. 🙂

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    • Guten Morgen, liebe Frau Arabella.
      Ich danke für Ihr freundliches Kompliment. Das untere Bild?
      Nicht nebeneinander? Vielleicht das auf dem Markt unter dem Dom?

      Morgendlichnovembergraukalte Grüsse aus dem vorzüglichen Bembelland

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      • Ah, ich lese im Reader und nutze Android.
        Da sind die Bilder untereinander, gehe ich direkt in Ihren Blog sind sie nebeneinander.
        Ja, genau dieses Bild. Das schaue ich mir in Ruhe nochmal in allen Details an.

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  2. Ich kenne hier in der Nähe bei mir, in TÜ am Ne, auch ein wundervolles Café mit einem herrlichen Apfelkuchen…
    den könnten wir beide doch mal irgendwann zusammen ausprobieren, oder?

    Erneut…feines Strolling around von dir, without (fine pictures) and with words… 🙂
    Liebe Morgengrüße vom Lu

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    • Ha, sehr konkrete Vorschläge am frühen Montagmorgen lassen eine ertragreiche Woche erwarten.
      Deine (yepp, ich habs mir gemerkt) Idee gefällt mir. Ich werde meine Sänftenträger Erkundigungen
      einholen lassen, was die Gangbarkeit der Wegstrecken und die Reisedauer betrifft ~~~~
      Morgendlichnovembergraukalte Grüsse aus dem vorzüglichen Bembelland

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  3. Das war aber ein schöner Spaziergang.
    ..Sogar mit einem Apfelkuchenknaller in einem bislang unentdeckten Café, in dem darauf hingewiesen wird, dass manche Dinge eben so sind wie sie sind: gut. 😊

    Das mittlere Bild mag ich am liebsten und die rot-weißen Schirme erinnern mich an den Blumenmarkt in der Bielefelder Altstadt vor den schönen alten Häusern mit den verzierten Giebeln, die wenigen, die vom Krieg verschont wurden.

    Ich wünsche Ihnen einen guten Wochenstart und bedanke mich für den wieder sehr informativen und genießerischen Text- und Bildspaziergang.

    Viele Grüße
    von der Karfunkelfee

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  4. Hat der Großvater in diesem Haus auch länger gelebt von Kind an? Das Haus, das verschwand. Mir gefällt das Hinschauen und Recherchieren in eigener Sache. Ähnlich und doch anders macht es eine junge Fotografin:
    http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/wdr/orly-zailer-23112014-100.html
    Meine sicheren Orte sind ebenfalls Bibliotheken und Kathedralen, Dome, Kirchen, vor allem aber die Wälder, Weinberge, Wiesen, Versenktheit in Bücher nicht zu vergessen.
    Gruß aus dem Umland

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    • Er hat dort noch minestens seine Jugend verbracht.
      Das neue Viertel gegenüber von Bahnhof bis hin zu Berufsschule und der Jahn-Turnhalle entstand in den 1920er Jahren.

      Vielen Dank für den Link – eine witzige Idee.

      Andere sichere Orte, als die von Ihnen genannten sind auch mir nicht erfindlich.
      Morgendlichnovembergraukalte Grüsse aus dem vorzüglichen Bembelland

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  5. Wie wunderbar. Und alles auf so engem Raum, daß man sich wundern kann. Und: wenn der Kuchen gut ist, darf es ruhig bei So isses sein! Und: freut mich, so viele Zitate.
    Alleweil gute Zeit nach Bembelonien!

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    • Danke im Nachhinein – der Tag war ergiebig, bzw. die Arbeit ist es gewesen.
      Einen schönen Abend hinüber ans andere Ufer des grossen Stroms und feierabendlichnovemberfrühdunkelndkalte
      Grüsse aus dem fasteinflugschneisenfreien Bembelland

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  6. Mir gefällt sowohl das alt-neu-Kontrast-Foto als auch das Marktfoto sehr gut ! Bei meiner hohen Meinung von ihrer Fotokunst bin ich geneigt anzunehmen, dass dieser strahlende rot-grün Kontrast kein Zufall ist 🙂

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  7. Marktplätze wird es so immer geben, Straßenzüge wie den gezeigten ändern sich meist auch heute nur wenig, was die Silhouette Frankfurt’s anbelangt, da tut sich immerzu Neues, Aufregendes und die Stadt wird endlich eine, die wirklich dem Main zugewandt ist und das Mainufer vor allem belebt.
    Frankfurt’s Innenstadt war nach dem Kriege (ich habe sie erst Ende der 60er Jahre kennengelernt) ein potthäßliches Entlein und mausert sich immer mehr zur Schönheit und dieses Multikultitreiben bekommt ihr ausgesprochen gut, denn selbst das verrufene Bahnhofsviertel wird neu gestaltet und entschärft.

    Wir waren heute gegen 10.00 Uhr auf dem Weg in die Innenstadt: um diese Zeit sind die Zufahrtstraßen wieder staufrei zu befahren, die Innenstadt erwacht aus dem Schlaf, es sind kaum Leute unterwegs, es herrscht noch eine Tante-Emma-Laden-Stimmung in der Freßgass und um die Hauptwache herum. Es war dörflich still.
    Sie so zu erleben, ist natürlich wieder das Privileg der Nichtmehrberufstätigen, denn in den Abendstunden ist von dieser Idylle nichts mehr zu spüren.

    Ich mag sie, diese Stadt, die viel besser ist als ihr Ruf.

    mit netten abendlichen Grüßen in Ihre Klause von der meist das Positive sehen wollenden

    Karin

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    • Aber natürlich ist diese herzvolle Stadt weitaus besser als ihr Ruf. Klar, in den 1970er Jahren sah das noch anders aus als heute.
      Und das Bahnhofsviertel wird herausgeputzt und die Preise für Wohnungen steigen und steigen.
      Frankfurt rulez!
      Abendlichlichtausschaltende Grüsse aus dem nurmehr ruhigen Bembelland

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  8. Soso, inzwischen gehören wieder Leute ins Arbeitslager, es ist erschreckend wie viel blödes Volk inzwischen wieder solche Kommentare in der Öffentlichkeit absondern darf ohne gleich eine zu fangen. Was für ein Glück, dass ich selten öffentliche Verkehrsmittel benutze.

    Der Dom gehört zu Mainz vermute ich mal. Ich hab zwar nur sehr rudimentäre Erinnerungen an Mainz, aber die Stadt gefiel mir damals.

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    • Schwierig… Ist flanieren nicht in gewisser Weise vorausetzungslos, d.h. assoziierendes Flanieren wäre dann immer schon an andere Gedanken (weitesten Sinne) gebunden. Insofern, wenn ich von mir selbst ausgehe, ist ein assoziierendes Flanieren sicherlich eine seltsame Passion.
      Ich kenne mich allerdings besser beim absichtslosen Flanieren aus. Losgehen, morgens irgendwann, in einer fremden Stadt, kein Ziel verfolgend ausser vielleicht dem, nicht blindlings auf die Strasse zu laufen oder in einen Rückstand zu treten…
      Abendlichlichtausschaltende Grüsse aus dem nurmehr ruhigen Bembelland

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      • Flanieren, so wie ich es verstehe, ist dem Assoziieren in der Bereitschaft verwandt, sich einzulassen auf das, was einem begegnet. Eher absichts- als voraussetzungslos. Abendmüde Grüße!

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        • Ich hätte jetzt gut Lust, einfach in der grossen Stadt zu flanieren und dabei ein wenig die Begriffe voraussetzungslos und absichtslos zu ventilieren. Draussen scheint die Sonne und der Himmel ist einem unverschämten blau. Die Kälte ist geradezu ideal für klare Gedanken.
          (Oha, ich habe später ohnehin einen Termin in der Bembelstadt)
          Novembrigeinmaligblauhimmlischfitte Grüsse aus dem magischen Bembelland
          .

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          • Da bin ich ja gespannt, ob wir hier vielleicht demnächst etwas Flanier-Ventilier-Futter serviert bekommen. 😉 Meine Gedanken tauchten bereits am mittleren Vormittag in den sonnendurchwirkten Hamburger Wattenebel. Mich selbst hielt es dann auch nicht mehr lange am Schreibtisch. Mehr dazu demnächst an anderem Ort…

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    • So was nenn isch e hell Köppsche 😉
      Die hadde es Caffee geescheriwwer vom Bahnhof gehabt, nachdem de Urobba middm Koppschuss ausm Erste Kriesch widderkomme iss. (es soll Leit gewwe, die saache, de Erste Kriesch wär de scheenste gewese…)

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  9. „Wie gut, dass wir uns dennoch menschliche Begegnungen wünschen können und sich diese Wünsche gelegentlich auch erfüllen.“ Ja, sehr schön, lieber Herr Ärmel. Und bitte, wenn Sie sich vom Finbar Lu zum Apfelkuchenessen ködern lassen, vergessen Sie mich bitte nicht auf dem Wege. Muntere Abendgrüße

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