Lost in Ost? – Test the West!

„Hot Tuna – Steady as she goes (2011)“ passt prima zum Wetter, zur Stimmung eher „Schmetterlinge – Proletenpassion (1977)“…
 
Die besorgten Anfragen, ob ich Gummistiefel und Ölzeug bräuchte, mir ein Schlauchboot weiterhelfen würde oder man sonstwie Hilfestellung leisten solle fand ich herzig. Ich hatte Glück. Oder besser, wir hatten ziemliches Glück. Doch der Reihe nach.
Vor dem Bahnhof von Schwerin schaut sich jemand um als suche er jemanden. Nach und nach nähern sich andere Reisende mit kleinem Gepäck, alle mit dem mehr oder weniger gleichen Sucheblick. Langsam bildet sich vor dem Springbrunnen auf dem Bahnhofsvorplatz eine kleine Gruppe, die in den nächsten Tagen daran arbeiten wird, die individuellen Horizonte zu erweitern.
Der Plan: eine prallgefüllte Woche auf der Suche nach der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“. Der Begriff der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“ wurde massgeblich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von Walter Ulbricht geprägt und fand sogar seinen Niederschlag in der Verfassung der DDR. Einige Jahre nach seiner Entmachtung verschwand 1974 der Begriff wieder im Zuge einer Verfassungsänderung. Im Verlauf einer Forschungsreise sollte der Frage nachgegangen werden, wie sich im Verlauf der Geschichte der DDR die Erziehung zum sozialistischen Menschen dargestellt haben könnte. Die Bandbreite des Programms war enorm. Die Auseinandersetzung mit Landwirtschaft, urbanem Leben, Architektur, Betrieb, Schule, Film, Literatur, Musik, Technik, Karikatur und den Besuch historisch bedeutender Orte sollten dazu beitragen, den Begriff der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“ ergänzt durch Vorträge, Referate und Besichtigungen zu untersuchen. Überdies konnten Zeitzeugen zu Gesprächen zu den jeweiligen Schwerpunkten gewonnen werden, um die Scheuklappen an den Fenstern des Elfenbeinturms recht weit zu öffnen. So wurde die Rundreise zu einer Art Morgenlandfahrt, die sich stets im Konkreten bewegte. Das Salz in der Suppe waren dabei auch die Teilnehmer, die nicht nur zu den verschiedenen Programmpunkten gut vorbereitet waren, sondern auch aufgrund ihrer jeweiligen Herkunft aus Ost und West gemischt waren. Davon wird noch zu berichten sein.
Die erste Station war Mestlin. Das erste landwirtschaftliche Musterdorf. Neben dem ursprünglichen, jahrhundertealten Dorf wurde versucht, ein städtebauliches Konzept zu realisieren, das als Idealdorf das Zentrum einer LPG bilden sollte. Durch die sogenannte Wende verschwand die LPG was die soziale Gemeinschaft in Mestlin nachhaltig veränderte. Das Gespräch mit den beiden Lehrkräften, die schon in den 1950er Jahren an der Schule in Mestlin unterrichteten erweiterten die Sichtweisen nachhaltig. Anschliessend fuhren wir nach Perleberg, um ein Geschichtsmuseum zu besichtigen, das auf eine private Initiative hin gegründet worden ist.
Mein erstes Résumé bei einem späten Abendessen ist eigentlich die Bestätigung einer Vermutung, die ich schon lange habe: Ich wusste und weiss noch immer viel zu wenig vom Leben in der DDR.
Die Fotos zeigen den zentralen Platz umbaut mit dem Kulturhaus, der Schule, Wohn- und Geschäftshäuser, ehemalige Gastwirtschaft und dem Kindergarten. Der Titel dieses Posts wird sich Lauf weiterer Berichte hoffentlich selbst erklären…
     (Foto anklicken und gross gugge)

 

 

 

 

 

 

10 Gedanken zu „Lost in Ost? – Test the West!

  1. Auf meinem ersten Ausflug in die (damals noch existierende) DDR war dieses Grau der Gebäude noch die vorherrschende Farbe. Immerhin haben sie hier ein wenig Frühzeitgraffiti an den Wänden.
    Das ganze Ensemble erinnert mich an Kasernen und die Arbeiterhütten im Pott, wobei ich letztere auch nur von Fotos kenne, möglicherweise waren die schwarz/weiß.
    Was mich allerdings am meisten verwundert ist die zentrale Bedeutung der Kirche in einem sozialistischen Musterdorf. Wer hat denn da nicht aufgepasst?

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  2. Kirche? Sollte ich da etwas übersehen haben?
    Das Grau rührt von der Alterung des Putzes her. Ich dachte auch immer… Es werden aber in einem späteren Post Fotos kommen, auf denen man die ursprünglichen Farben sehen kann. Die zeitgenössischen Bauwerke waren nicht grundsätzlich mit „grauem Verputz“ geplant. Solche Bilder hatte ich auch lange im Kopf.

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  3. Guten Morgen Herr Ärmel, ich bin gespannt auf die sozialistische Menschengemeinschaft. Oder war das wieder ein Versuch Menschen zunter einen Mantel zu stecken?

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  4. Kein Versuch zu bemänteln und verstecken, eher das Gegenteil war der Fall. Dem scheinbar planmässigen Vergessenmachen der DDR zu widerstehen und einige schiefe Bilder zu korrigieren.

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  5. Danke, das tut gut. Manchmal denke ich als in Westdeutschland geborener stehe ich ich ziemlich alleine mit meinem Wunsch, die ganze Geschichte verstehen zu wollen. Und die ehemalige DDR ist mehr als nur ein unglückliches Kapitel aus „Diktatur“, „Stasi“, „SED“, „Bevormundung“ und „Reiseunfreiheit“… Davon wird im Blog noch zu reden sein.

    Schöne Grüsse vom Schwarzen Berg

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  6. Also, wirklich ein ganz besonders spannendes Thema in diesem blog. Und ich glaube nicht, dass Du da mit Deinem Wissendurst so ganz alleine bist … auch mir ist es wichtig, deutsche Geschichte zu verstehen, zu begreifen und dazu gehört nun mal unabänderlich eben auch die Geschichte der DDR dazu.

    Und ich kann das „Ostalgie- Phänomen“ sehr gut verstehen, es geht halt auch um die Bewahrung der eigenen Identität (oder so.).

    Was mich bei der „sozialistische Menschengemeinschaft“ so fasziniert, ist, dass bestimmte Grundsätze des Sozialismus/Kommunismus irgendwie nie so richtig in die „Herzen“ der Menschen kam.

    Wenn ich daran denke, wie braunes Gedankengut nach der „Wiedervereinigung“ in den Ost-Bundesländern plötzlich wieder salonfähig wurde (zur Erinnerung: Es brannten die Heime von Asylbewerber und die Bevölkerung hat dazu geklatscht … natürlich nur vereinzelt, aber immerhin).

    Oder: Als die Sowjetunion den Geist aufgab, da meldeten sich diverse Regionen mit dem Wunsch nach einem eigenen Staat. Und irgendwo habe ich abgespeichert, dass der Kommunismus auch die Nationalstaatlichkeit irgendwie überwinden wollte. Und kaum sind die autoritären Strukturen weg, sind „sozialisitsche Erziehung“ (die ja dort seit 1918 stattfand), wie weggeblasen …

    Und ich bin auf Deine weiteren Impulse hier sehr gespannt ! (Und ne Kirche hab ich auch nicht gefunden)

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  7. Danke für den Hinweis.
    Und jetzt begeben wir uns in den Diskurs. Auf dem Schild habe ich das auch gelesen. Das wurde nach 1990 (!) angebracht. Für den Zeitraum des Begriffes „sozialistische Menschengemeinschaft“ ist die Kirche unerheblich. Und auf dem zentralen Platz ist auch keine. Geht darum gings uns: wie Geschichte gemacht wird

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  8. Doch doch, da kam schon einiges in den Herzen nicht weniger Menschen an. Und genau die versucht man derzeit gezielt im Brunnen der historischen Vergessenheit zu versenken (wie auch so manches Gute mehr). Davon bestimmt später mehr in diesem Blog.

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