Dreh- und Angelpunkt: Tirana

Grenzüberschreitend sind die musikalischen Einflüsse, die zu betörenden Melodien verschmolzen werden: baskisch-keltisch-arabisch.  Der ektronische Dudelsack kann ganz schön anheizen. Hevia – Etnico ma non troppo (2003)…
 
Während der Diktatur des am Körper und vor allem im Kopf kranken Führers war der Zuzug in die Hauptstadt Tirana strengstens geregelt. Eine verschlafene Stadt mit meist flachen Häusern. Oft in bedenklich miserablem Zustand. Obwohl 80% des Energiebedarfs durch eigene Wasserkraft gewonnen wird, sind auch heute noch Stromabschaltungen an der Tagesordnung. Der Wasserdruck in den Leitungen ist so niedrig, dass viele Wohnungen eine elektrische Pumpe zur Druckerhöhung installiert haben. Engpässen bei der Wasserversorgung wird durch Sammelbehälter auf den Dächern abgeholfen. Manche Bewohner verkleiden ihre kleinen Balkons und richten darauf eine Küche ein. Mit dem Verbot jeglichen Privateigentums ab 1949 mussten Eigentümer ihre Grundstückspapiere abgeben. Für Landbesitz und urbane Grundstücke konnten nach dem Fall der Diktatur keine Nachweise über das vormalige Eigentum mehr erbracht werden. Daraus entstanden besonders in ländlichen Regionen erhebliche soziale Probleme, die nach wie vor ungelöst sind. So liegen grosse Ackerflächen noch immer brach.
Seit dem Fall der Diktatur begann ein Zuzug in die Kapitale und damit ein Bauboom ohnegleichen.  Häufig ohne Baugenehmigungen und somit illegal. Überblickt man die Silhouette der Stadt von einem Hochhaus, ist es kaum vorstellbar, dass diese Stadt erst seit knapp fünfzehn Jahren dermassen in die Höhe geschossen und ins Umland ausgeufert ist.
Die rasante Entwicklung der Stadt ist kaum nachvollziehbar. Der Verkehr schiebt sich durch die breiten ehemals leeren Boulevards. In den schmalen Strassen sind alle Parkplätze belegt. Da sogar private Kraftfahrzeuge vor den 1990er Jahren nicht erlaubt waren, ist der Verkehr leicht chaotisch. Wer sind die Fahrlehrer und wo haben sie ihre Lizenzen erworben für die unzähligen Autofahrer? In der betriebsamen Hektik wirkt die sonntägliche Harleyparade zwar gewohnt grossstädtisch, anderseits aber dennoch irgendwie unwirklich an diesem Ort.
Zur Zeit läuft zum elften Mal das internationale Filmfest. Wir sehen den deutschen Beitrag „Harms“. Einleitende Worte von Regisseur Müllerschön im Beisein von Heiner Lauterbach und einigen Mitarbeitern der Filmcrew. Zu dem Film Herrn Ärmels Prädikat: Besonders vermeidbar. Aber es gab andere wirklich sehenswerte Filme. Und viele gut gemachte Kurzfilme. Zu allen Vorstellungen ist der Eintritt frei. Diese, dem Besucher ständig auffallenden Gegensätze wollen verdaut sein kaum drei Flugstunden von Mitteleruopa entfernt. Die einen wühlen sich durch Mülltonnen, andere sitzen an sauber gedeckten Tischen. In besseren Restaurants verlangt der Kellner für ein lecker zubereitetes üppiges Mahl mit allem Vor und Zurück inklusive der Getränke knapp zehn Eurotaler pro Nase. Den gegrillten Maiskolben an der Strassenecke dagegen gibts für 15 Cent. Beim Schreiben merke ich, wie stark die Eindrücke nachwirken. Einen zusätzlichen Turbo dazu gibt es durch den Besuch im Nationalmuseum. Von der frühen Besiedelung durch die Illyrer bis zum Zusammenbruch des Menschenschinders und seines Unrechtsregimes. Die Artefakte reichen von frühesten antiken handwerklichen Zeugnissen, der osmanischen Okkupation seit dem 15. Jahrhundert bis hin zur erstarkenden Nationalbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Zeit des 2. Weltkriegs wird ebenso präsentiert wie die Aktionen der Partisanen. Die Kunst des RealSozialismus. Im nächsten Saal die erbarmungswürdigen Habseligkeiten darbender Gefangener in den Arbeitslagern neben der 1,5 Quadratmeter kleinen fensterlosen Einzelhaftzelle der 1970er Jahre. Es ist schwierig, diese unglaublichen Kontraste auszuhalten.
 
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11 Gedanken zu „Dreh- und Angelpunkt: Tirana

  1. Das letzte Bild spricht wirklich Bände… dieselbe Geste und dabei auf engstem Raum Ausdruck zweier völlig verschiedener Lebenswelten: der Typ im Cherokee, satt und gelangweilt und neben ihm die Frau mit ihren Habseligkeiten, voller Scham und Resignation. Ein Bild, das mehr von den herrschenden Gegensätzen in unserer globalisierten Welt als von ihren Gemeinsamkeiten erzählt…

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  2. So weit auseinander sind wir gar nicht, die Armut in Albanien ist sicherlich extremer als hier, dafür haben wir wahrscheinlich den extremeren Reichtum, so bleiben die Abstände gewahrt. Um jemanden am Mülleimer auf der Suche nach Verwertbarem zu fotografieren braucht man an Hamburger Bahnhöfen wahrscheinlich keine halbe Stunde. Nur so ein krasses Bild wie das letzte, das wirst Du am Neuen Wall nicht schießen können, denn da werden albanische Bettler vom privaten Ordnungsdienst entfernt. Kapitalismus suxx.

    Die Wassertanks auf dem Dach kenne ich aus der Türkei, nur sehr viel extremer. Sehr effektive Methode um Strom zu sparen, bei über 300 Sonnentagen im Jahr wird das Wasser schon gut vorgeheizt.

    Was ich mich bei solchen Ländern immer frage ist, woher der plötzliche Reichtum einiger Menschen kommt, denn schließlich hatten ja in den dunklen Zeiten alle nichts. Haben die alte Familienschätze ausgegraben oder sind das alles eingefallene Heuschrecken, die dort den Kapitalismus installieren?

    Hevia ist mir zu Dudelpoppig merk ich grad. Lieber Afro Celt Sound System 😉

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  3. Genau so sehe ich das auch: nicht schön aber ungemein aufregend. Und vielschichtig. Albanien ist sicherer als Kroatien. Bei uns scheinen die albanischen Albaner mit denen aus dem Kosovo verwechselt zu werden.
    btw: Zwei Fotostrecken von dieser Rundfahrt werden wohl noch präsentiert werden 😉

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  4. Abwarten: da bereite ich noch eine Fotostrecke mit Menschen vor. Es ist schon noch eine „andere Welt“.
    Das Wasser aus den Wassertanks möchte ich nicht unbedingt trinken – ob warm oder kalt.
    Das plötzliche Geld machen in der Regel die Wendegewinner. Gabs bei uns ja auch, nur hat man das offensichtlich weniger mitgekriegt. Das sind Leute, die aufgrund welcher Voraussetzungen auch immer, gleich die richtige Startposition hatten. In Albanien kommt hinzu, dass der allgemeine steigende Lebensstandard durch rückfliessendes Geld von Familienangehörigen aus dem Ausland geschaffen wird.

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  5. „Hevia ist mir zu Dudelpoppig merk ich grad. Lieber Afro Celt Sound System ;)“ Viel Dudelsack? ok, Zustimmung. Aber poppig – was ich da neueren Elaboraten von Afro Celt Sound System gehört habe, finde ich weitaus massentauglicher: von der Londoner Chill Lounge über den Beach Club bis zu den Weltmusikfreunden werden da alle weichgespült bedient. Was sich ja auch in den Plattenverkäufen wiederspiegelt. Die ganz frühen Stücke hatten da durchaus mehr Charakter. mille grazie dennoch für den Tipp, von Mussigg verstehe ich im Grunde ja nix

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