Horsche: Gogol Bordello -Trans-Continental Hustle (2010).
Lesen: Fritz Müller-Scherz, Wim Wenders [Hrsg.]: Im Lauf der Zeit. Bild für Bild, Dialogbuch, Materialien. Frankfurt, Zweitausendeins. 1976. 334S..
Essen & Trinken: Zunehmend weniger Fleisch. Die Tierproduktion in den westlichen Ländern ist der reine Horror. Zumindest für Menschen, die genauer hinschauen und Fragen stellen.
Schaffe: Es gibt immer was zu tun. Derzeit sogar viel.
Gugge: „Im Lauf der Zeit“ von Wim Wenders…
Es war nicht der fünfundsiebzigste Geburtstag des Regisseurs Wim Wenders. Wir hatten unerwartet einige freie Tage. Diese nutzten wir, um die filmische Reise von Kamikaze (Robert) und dem King of the Road (Bruno) auf den Strassen entlang der vormaligen Grenze zwischen der DDR und der BRD nachzufahren. Wir sind Nachfahren. Über den ersten Teil unserer Reise von Lüchow nach Nordhessen habe ich im Oktober 2018 hier berichtet.
Unsere zweite Etappe verlief von der Rhön bis hinunter ins oberpfälzische Viechtach. Mit der An- und Rückreise planten wir drei Tage ein. Wir starteten frühmorgens. Wunderbares Spätsommerwetter machte die Reise zu einem Vergnügen. Wir kamen rasch voran. In der Rhön sahen wir erstmals einen inzwischen arg bedrohten Schwarzstorch auf einer Wiese stolzierend.
Das Basaltwerk. Bereits im Film war anhand der Gebäude nicht eindeutig zu erkennen, ob es sich wirklich um ein Basaltwerk handelte. Es hätte sich auch um eine Verladestation für verschiedene Gesteinsarten handeln können. Waren die Gebäude für die Filmarbeiten „stillgelegt“ worden oder wurde dort tatsächlich nicht mehr gearbeitet? Anhand unserer Recherchen und der Hilfsmittel auf der Reise, entschieden wir uns nach einer Weile, die Suche danach aufzugeben. Manche Orte sind im Verlauf von vierundvierzig Jahren so sehr verändert worden, dass sie heutzutage nicht mehr zweifelsfrei zu identifizieren sind. Wenn sie nicht schon ganz verschwunden sind. Die erste grosse Veränderung erlebten wir an der Rother Kuppe.
Zur Zeit der Dreharbeiten stand der hohe Aussichtsturm auf einem kahlen Hügel. In der Ausflugswirtschaft am Fuss des Turms erfahren wir, dass die umliegende Region zum Naturschutzgebiet erklärt worden sei, und in diesem Zuge erhebliche Aufforstungsmassnahmen vorgenommen worden seien. Und freie Blicke auf die Grenze zur DDR sind militärisch nun nicht mehr erforderlich.
Ähnliches erfahren wir ganz ungeplant am sogenannten Eisfelder Blick. Den genauen Standort einer ehemaligen US-Beobachtungshütte, dem Ort des endgültigen Abschieds von Robert und Bruno im Film, konnten wir nicht finden. Wir mussten ihm jedoch sehr nahe gewesen sein. Als wir aus einem Waldrand (BRD) traten, standen wir unversehens auf einem Kolonnenweg (DDR). Zwei aus der Erde ragende Betonquader liessen auf Fundamente ehemaliger Strom- oder Fernmeldemasten schliessen.
Auf der Fahrt von der hessischen in die bayerische Rhön wichen wir von der Fahrtroute im Film ab. Die beiden Protagonisten trennten sich. Bruno, um weiterhin seiner geplanten Route zu folgen. Er besuchte die Kinos entlang der Grenze und wartete dort nach Bedarf alte Projektoren. Robert (Kamikaze) hingegen trampte nach Ostheim, um dort seinen Vater zu sehen.
Auffallend ist, dass die Grenze, bis auf eine Ausnahme, in weiteren Verlauf des Films für den Regisseur eine eher untergeordnete Rolle zu spielen schien. Dagegen traten die persönlichen Konturen der beiden Figuren von Bruno und Robert mehr ins Rampenlicht.
Der Filmreise wurde zwar chronologisch gedreht aber bei dem Filmschnitt wurden die Handlungsorte in anderen Zeitebenen angeordnet. Wir entschieden uns aus diesem Grund, den Orten der Dreharbeiten zu folgen.
Robert traf seinen Vater, der in seiner kleinen Druckerei in Ostheim noch immer eine Zeitung verlegte und herausgab. Nun erklärt sich dem Zuschauer des Films, warum Robert, wo immer er eine Zeitung fand, diese sogleich lesen musste.
Im Film werden die beiden Orte Ostheim und Haßfurt der Handlung entsprechend zu einem Schauplatz vereint. So geht beispielsweise Robert in Hassfurt um eine Strassenecke, überquert dann einen Bahnübergang und betritt daraufhin die Druckerei seines Vaters in Ostheim. Der Haßfurter Bahnübergang ist längst durch eine mächtige Überführung ersetzt worden. Und die Schweinemetzgerei links der ehemaligen Bahnschranke wurde weitgehend rückgebaut. An ihrer Stelle steht ein kleines Restaurant. Anders als zu Beginn des Films wurden in seinem weiteren Verlauf zunehmend Aufnahmeorte zusammengeschnitten. .
In Ostheim fanden wir die Druckerei der Ostheimer Zeitung. Sie gilt als die kleinste regionale Tageszeitung Deutschlands. Wie schon in Lüchow, wo wir zur Erinnerung ein Exemplar Elbe-Jeetzel-Zeitung kauften, betraten wir das Ladenlokal für den Kauf einer Ostheimer Zeitung.
Das Filmbuch, wie immer wenn wir mit Menschen ins Gespräch kommen wollten, zur Hand, fragten wir nach der Druckerei. Unsere Überraschung war nicht gering, als wir erfuhren, dass wir mit den Eigentümern selbst sprachen. Sie erinnerten sich noch an die Dreharbeiten und wie die Druckwerkstatt für Wenders´ Vorstellungen verändert werden mussten. Unsere Spannung stieg. Herr Gunzenheimer lud uns ein, die Druckerei anzusehen. Sie hatte sich in den verflossenen Jahrzehnten nur wenig verändert. In neuere Maschinen war investiert worden, die lange Fensterfront modernisiert und einiges andere. Zum Glück blieb dabei der alte Charme erhalten. Es war erlaubt, nach Belieben zu photographieren. Wir erkannten die Maschine, auf welcher Robert seinem Vater eine Extraausgabe gedruckt hatte. Die Bilder an den Wänden hingen noch wie ehedem. Und wir erfuhren viel Interessantes aus der Geschichte der Druckerei und von der Eigentümerfamilie.
Erfüllt und beeindruckt nahmen wir von Herrn Gunzenheimer und seiner Frau Abschied. Wir bedanken uns hiermit nochmals herzlich für das Exemplar der Extraausgabe vom 30. März 2007 zum hundertjährigen Bestehen der Ostheimer Zeitung. Versteht sich, dass in einem Bericht auf Seite 18 die Dreharbeiten von „Im Lauf der Zeit“ erwähnt werden.
Unsere nächste Station war die Tankstelle, an der Bruno und Robert dem Tankstellenbetreiber, einem Schulfreund von Robert den LKW als Pfand hinstellen. Dafür nehmen sie dessen alte 250er BMW mit Beiwagen, um nun gemeinsam zum Ort von Brunos Kindheit zu fahren. Die verbrachte er auf der Bacharacher Werth, einer Insel im Rhein am Stromkilometer 544. Diesen Abstecher unterliessen wir, denn der Mittelrhein fliesst quasi hier um die Ecke. Und diese Insel mit dem Haus darauf haben wir bereits oft passiert.
Das C-C Kino in Haßfurt. Die zuvor recherchierte Adresse stimmt nur ungefähr. Also sprachen wir eine Passantin an.
„Aber ja doch, gehen´s nur gleich hier rechts um die Ecke, da werden´s das Kino dann schon sehen.“
Wir bogen in die Amtskellergasse ein. Vor uns lagen haufenweise die Reste des vormaligen Kinos. Der Abbruch konnte erst vor kurzem erfolgt sein. Wir stiegen durch die Trümmer. Hier ein bisschen gefältelte Wandverkleidung. Dort hing noch der imposante Sicherungskasten für die Stromversorgung. Und das hier musste der Notausgang gewesen sein. Beim Verlassen des Geländes fanden wir im Schutt einige zerissene Filmschnipsel. Wir schauten uns an. Andenken. Merkwürdige Stimmung. Nichts bleibt.
Nach diesem erfüllenden ersten Tag fanden wir eine solide Unterkunft in Sesslach. Die wohlerhaltene mittelalterliche Stadt mit ihrem besonderen Flair diente bereits manchen Filmen als Kulisse. Selbst dieser Abend und das Früstück am folgenden Morgen wären eine eigene Geschichte wert.
Nach dem Früstück brachen wir auf zu einem kleinen Ort westlich von Coburg. Am Ortsrand liegt der kleine Bahnhof mit dem Güterschuppen. Der Güterschuppen, an welchem Robert einem kleinen Jungen begegnete, ist niedergelegt worden. Dort tauschte er seinen Koffer und einige Kleinigkeiten gegen das Notizheft des Jungen. Und von hier aus nahm er einen Triebwagen, mit dem die Schlussszenen des Films eingeleitet werden.
Während dieser Szenen sieht man am Bildrand Bruno in seinem Möbellastwagen auf der Landstrasse auftauchen. Während der kurzen Szenenwechsel werden sowohl den LKW als auch der Zug gezeigt, wie sie auf einen unbeschrankten Bahnübergang zufahren. Diesen Bahnübergang dokumentierten wir photographisch, wie übrigens auch alle anderen Findeorte. Dabei versuchten wir, wo immer es möglich war, den Standpunkt der Filmkamera einzunehmen.
Eine andere Station in der Nähe liessen wir aus. Die Burg-Lichtspiele in Meeder waren bereits vor vielen Jahren zu einem Supermarkt umfunktioniert worden. Als auch dieser nicht mehr rentierte, befand sich eine Videothek in den Räumen. Inzwischen ist das Gebäude abgebrannt. Ein anderer nicht auffindbarer Ort war das im Filmbuch sogenannte Abbruchkino. Daraus schleppten Bruno und Robert Teile aus dem Raum des Filmvorführers. Im Filmbuch ist dazu keine Ortsangabe vermerkt.
In Hof an der Saale fanden wir zeimlich rasch das Kino der Endszene des Films. Die Weisse-Wand-Lichtspiele in Hof. Oft waren es nur Einzelheiten an Gebäuden, die Anzahl der Fenster etwa an denen wir Orte als zum Film gehörig erkannten. In diesem Fall waren es die Eingangstüren im zurückgesetzten Portal des Hauses. Während wir noch über das Haus sprachen, mischte sich ein alter Mann in unsere Unterhaltung. Er erzählte von seinen früheren Besuchen in diesem Kino. Damit bestätigte er unsere Überlegungen. Heute befindet sich in den Räumen ein Elektrofachgeschäft.
Zwei Orte fehlten uns noch auf unserer Liste. Bei der ursprünglichen Planung wollten wir sie eigentlich auslassen, weil sie aufgrund der Entfernung fast eine dritte Etappe wert gewesen wären. Aber nun. Hier. Und wir hatten bereits so viele Orte gefunden.
Wir nahmen in Hof die Autobahn und fuhren runter nach Viechtach in der Oberpfalz. Die Park-Lichtspiele zu finden sollte einfach sein. Im Filmbuch findet sich ein weiterer Hinweis. Über dem Eingang zum Kino findet sich die Neonschrift: Ital EisCafe Mucchetto.
Die Adresse kann man im Internet erfahren. Vorort deutete zwar manches aus ein verlassenes Eiscafé aber nicht auf ein Kino. Wir sprachen Passanten an. Niemand wusste genaueres. Eine Eisdiele? Ja – aber ein Kino. Keine Erinnerungen.
Lichtblitze aus einem alten Werkstattfenster. Eine Schmiede. Ein alter Mann schweisste. Wenn die Ereignisse so lange zurückliegen, muss man ältere Menschen fragen.
Der Schmied unterbrach seine Arbeit für uns.
„Ja, da war ein Eiscafé. Das ist aber seit einiger Zeit geschlossen. Ein Kino gibts unten im Stadtzentrum.“
Dort fanden wir tatsächlich ein Kino. Neue-Park-Lichtspiele. Ein altes Gebäude. Behutsam modernisiert. Aber die Fassade passte nicht zu den Bildern im Film. Wir gingen die Strasse runter bis zur Ecke und fanden dort rasch des Rätsels Lösung. Früher befand sich der Eingang des Kinos auf der Schmalseite des Hauses. Und darüber war der Leuchtkasten Park-Lichtspiele. Und unten drunter war die Neonschrift des Ital EisCafe Mucchetto.
Im Internet eine Adresse zu recherchieren bedeutet nicht, in die Vergangenheit sehen zu können. Der alte Schmied hatte Recht. Zwischenzeitlich war das Eiscafé von Muccheto an die von uns gefundene Adresse umgezogen. Und hatte auch dort bereits wieder seine Pforten geschlossen. Nichts bleibt?
Wenige Kilometer nördlich von Viechtach liegt Bad Kötzting. Selbst jetzt am Nachmittag wirkte das Städtchen irgendwie verschlafen. Nach einer etwas merkwürdig verlaufenden Begegnung mit einer Frau fährt Bruno in seinem LKW eine enge Strasse hoch und biegt rechts ab. Dabei sieht der Zuschauer auf die Front eines Geschäftshauses. Auf dem Schriftzug an der Wand über den Schaufenstern liest man Möbel Traurig. Ein metaphorischer Bezug zu den vorausgegangenen Ereignissen im Film.
Die Strasse ist inzwischen Teil einer grosszügig angelegten Fussgängerzone. Die alten Schriftzüge sind moderneren gewichen. Der Familienname ist geblieben. Nichts bleibt dauerhaft. Aber manches währt lange und verändert sich dabei.
Im Lauf der Zeit.
Wir sind am Ende unserer beiden Reiseetappen, unseres eigenen Roadmovies vom Suchen und Finden angelangt. Auf Landstrassen haben wir 840 Kilometer zurückgelegt. Für den Film wurden 49000 Meter Negativmaterial belichtet. Die Länge des fertigen Films ist 4760 Meter lang. Unser Reiseweg war eine Kopie und doch keine Kopie des Reiseweges der beiden Filmhelden.
Wir sind wirklichen Menschen begegnet. Haben zahlreiche Gespräche geführt. Zu den sichtbaren Veränderungen in Dörfern und Kleinstädten kamen die der Landschaften hinzu. Das erfährt man entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze besonders deutlich.
Auch wir haben uns verändert. Durch viele Gespräche und Diskussionen sind unsere Horizonte geweitet worden. Wir haben auch jetzt wieder Landstriche gesehen, in denen es noch so viel zu entdecken gibt. In der von uns befahrenen Strecke hätten wir unschwer hundert interessante Museen besuchen können. Zwei Kirchenburgmuseen und das Karpfenmuseum waren dabei nicht die ausgefallensten.
Die Menschen, denen wir begegneten waren freundlich und hilfsbereit. Als sie erfuhren, was wir mit unserer Fahrt bezweckten, zeigten sie sich spontan aufgeschlossen. Es war so einfach in ein Gespräch zu kommen, dass wir uns mehr als einmal fragten, wieso wir dennoch im ganz gewöhnlichen Alltag, beim Einkaufen oder im Strassenverkehr so viel Verhärtung und Aggression erleben müssen. Auch dafür diente uns unsere Fahrt als wohlempfundener Ausgleich. Es geht also noch immer auch anders. Menschlicher.
Es steht noch nicht fest, was wir aus dem gesammelten Material, den Erinnerungen, Notizen und Photograhien machen werden. Es wird sich zeigen. Im Lauf der Zeit.
Ich wünsche allen Besuchern, Lesern und Guggern einen wunderbaren Herbst.